Martin Walser sitzt vor seinem Haus in Nußdorf und blickt auf den Bodensee. Foto: Seeger/dpa

Martin Walser hat die Suizidforen des Internets aufgesucht. Niederschlag findet diese Suche in seinem neuen Roman „Ein sterbender Mann“, den der Schriftsteller nun im Stuttgarter Literaturhaus vorstellte.

Stuttgart - Dichter sind wehleidige Menschen, sagt Martin Walser: „Sie können das Leben nicht ertragen, ohne darüber zu schreiben.“ Walser ist selbst natürlich Dichter, Romancier und ungewöhnlich produktiv. Ganz sicher gehört der Schriftsteller vom Bodensee zu jenem Menschenschlag, der das Leben schreibend erträgt – das Jammern jedoch liegt ihm fern, stattdessen fährt er Witz und Ironie auf. Sein jüngstes Buch präsentiert er in Stuttgart rund sechs Wochen vor seinem 89. Geburtstag. Ernst und tödlich, bemerkt Julia Schröder, die Moderatorin des Abends, sei das Thema des neuen Romans – und der Autor entgegnet: „Das macht doch nichts, das war bei mir doch immer die Routine, die Gewohnheit: Wenn’s ernst wird, muss es auch komisch werden.“

Ernst wird es allerdings in gehörigem Maße. Theo Schadt heißt der Held von Walsers neuem Buch. Er war einst ein erfolgreicher Unternehmer, einer, der Fäden zog, dem alles gelang, einer am Machtpol. Nun sitzt er, gescheitert und geschlagen, an der Kasse des Ladengeschäftes für Tango-Utensilien, das seine Frau betreibt. Carlos, sein bester Freund, hat ihn verraten. Eine Frau natürlich, eine „mittelmeerische“, muss schuld gewesen sein am Verrat. Der wunde Theo verkriecht sich ins Internet, in die Welt der Suizidforen, entdeckt bald prompt das Leben neu, die Liebe, den Tango, die Erotik und das Mitgefühl.

Martin Walser hat sie persönlich aufgesucht, die Suizidforen. „Ich habe mich dort eingelesen“, erzählt er, „aber ich habe nichts hineingeschrieben.“ Dafür fand er auf diesen Seiten im Internet große Empfindsamkeit: „Dort gibt es ganz andere Töne als in der gesamten bürgerlichen Welt, und das, obwohl diese Menschen sich gar nicht kennen“, berichtet Walser. „Wenn einer von ihnen es geschafft hat, zünden alle eine Kerze an. Das ist eine Trauer, wie ich sie nirgendwo erlebt habe.“

Im Internet entdeckt: Neue Schreibform

Das Stöbern in den Foren ließ Walser nicht nur solch tiefe Gefühle entdecken, sondern auch eine neue Schreibform, überraschend zeitgemäß: „Aus einem E-Mail-Dialog wurde unversehens ein Roman“, erzählt er. „So etwas ist mir vorher nicht passiert und wird mir wohl auch nicht mehr passieren.“

Den Dialog führte er nicht mit einer Lebensmüden, sondern mit der Sinologin und Übersetzerin Thekla Chabbi, die am Freitag ebenfalls im Literaturhaus zu Gast ist. Martin Walser lernte sie anlässlich einer Ringvorlesung in Heidelberg kennen, zu der auch sein chinesischer Übersetzer eingeladen war. Und der Schriftsteller plauderte dort munter drauflos: „Wenn ich auf einen Roman zulebe, kann ich das Mundwerk nicht halten“, sagt er.

Wie viel Thekla Chabbi letztlich zum Roman „Ein sterbender Mann“ beigetragen hat, bleibt unklar – ein großer Anteil wird es jedoch gewesen sein: Sie war es, die Martin Walser auf die Suizidforen aufmerksam machte, sie recherchierte für ihn, sie erfand für ihn eine algerische Untergrundbewegung der Tangotänzer: „Ich habe nichts Derartiges gefunden“, sagt sie, „also habe ich mir die Freiheit genommen.“

Martin Walser liest sehr zügig aus seinem Roman, beginnt ganz vorne, überspringt immer wieder Seiten, findet mit rauer Stimme hinein in seinen bekannten Ton, der schwungvoll alle Facetten von Pathos und Ironie zum Leuchten bringt. Später dann liest Thekla Chabbi ein Kapitel – und Walser hebt seine buschigen Augenbrauen zur Decke, lauscht ihrer Stimme konzentriert. So manches, findet er, können Frauen einfach besser als Männer. Zum Beispiel: das Publikum einer Lesung begrüßen – oder Fragen beantworten, die von anderen Frauen gestellt wurden.

Literatur und Religion sind Walser eins

Noch mehr hat Martin Walser im Alter herausgefunden. Dass Literatur und Religion nicht viel trennt, wird er schon früher vermutet haben; nun weiß er, dass sie eins sind. „Literatur“, stellt er fest, „verklärt die Welt genauso wie die Religion“, und er gesteht: „Das Weihnachtsevangelium ist der beste Prosatext, den ich kenne. Seitdem ich mir das einbilde, fühle ich mich spürbar wohler in der Literatur. Dann merke ich, dass ich als Kind zu lesen begonnen habe.“

Der digitale Briefroman indes bot Martin Walser die Gelegenheit, eine ganze Reihe erzählerischer Konventionen über Bord zu werfen – er schien nur darauf gewartet zu haben. In „Ein sterbender Mann“ vermischt er unbekümmert Briefliches, Erzählerisches, Lyrisches, Aphoristisches und, wie er selbst gerne sagt, einfach Hingeschriebenes: „Sätze, die Augenblicksprodukte sind“.

Diese, bitte sehr, sollte man ihm später jedoch nicht zitieren. Am liebsten wäre Walser wohl ein Gesetz, das dies ausdrücklich verbieten würde: „Darum schreibt man ja einen Roman, dass einem das nicht vorgehalten wird.“ Und Theo Schadt, der über 280 Seiten hinweg heldenhaft seinen Todeswunsch verteidigt und sich dabei doch tiefer ins Leben verstrickt, gleicht, das stellt Walser klar, Karl von Kahn, dem Helden seines früheren Romans „Angstblüte“, so wenig wie dem Autor Walser selbst: „Das sind zwei Figuren, die nichts miteinander zu tun haben.“

Wenn dieser Theo Schadt aber sagt: „Ich bin jetzt 72. Und am Ende. Aber nicht, weil ich 72, sondern weil ich am Ende bin“, dann liegt in diesen Sätzen ein Trotz, den man vielleicht doch auch dem real existierenden Autor Martin Walser zuschlagen darf. Walser empfindet das hohe Alter gewiss nicht als Massaker. Nichts weiter als eine Frage der Tagesform ist für Martin Walser, ob er es erduldet als ein langsames Hinsterben oder ob er es erforscht, von gespenstischer Lebensgier getrieben. Das sagt er so leicht, wie er es wohl auch hinschreiben würde.