EU-Parlamentspräsident Schulz ist verärgert: „Einige Staaten denken nur an sich, aber nicht an das ­große Ganze. So funktioniert Europa nicht“ Foto: EP

Er ist einer der bekanntesten Köpfe in Europa: Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments. Warum er sich nicht nur wegen der Flüchtlingskrise um die Zukunft des Staatenbundes sorgt.

Brüssel - Herr Schulz, wenn Sie einem Fremden derzeit Europa erklären müssen, was sagen Sie dem?
Das ist ein Verbund souveräner Staaten, der auf unserem Kontinent eine einzigartige Erfolgsgeschichte geschrieben hat. Allerdings ist Europa derzeit im schlechten Zustand.
Gerade bei der Flüchtlingskrise bräuchte es eine einheitliche Linie.
Das macht mir auch große Sorgen. Wir zeigen uns den historischen Herausforderungen nicht gewachsen. Das liegt am nationalen Egoismus. Der geht bei einigen Ländern weit über den Gemeinschaftsgeist hinaus.
Der Grundgedanke von Europa ist in Gefahr?
Wenn wir uns nicht darauf verständigen, dass wir die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – das Thema Migration gehört dazu wie Klimawandel, Handelsbeziehungen oder internationale Sicherheit – nicht durch Gemeinschaftsgeist bewältigen, sondern glauben, das würde durch nationale Alleingänge gelingen, dann wird Europa scheitern. Globale Probleme können nicht nationalstaatlich gelöst werden.
Wie viel Zeit geben Sie den Staaten noch, um den Kurs zu korrigieren?
Wir brauchen eine funktionierende EU, wenn wir unsere Sicherheit und unseren Wohlstand im 21. Jahrhundert nicht gefährden wollen. Dabei ist klar: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Man kann nicht hingehen und einerseits finanzielle Stabilität und Sicherheit durch die EU erfolgreich einfordern, um sich dann bei der Flüchtlingskrise nicht an einer solidarischen Lösung zu beteiligen, sich damit also aus der Verantwortung zu stehlen. So funktioniert Europa nicht.
Was meinen Sie konkret?
Nehmen Sie den Fall Russland. Das Land wird von einigen EU-Staaten als direkte Bedrohung empfunden. Im Anschluss an die völkerrechtswidrige Annexion der Krim haben wir Sanktionen verhängt und sind gemeinsam diplomatisch aktiv geworden. Es herrschte also ein großer Gemeinschaftsgeist. Aber wenn es nun um die Bewältigung der Flüchtlingskrise geht, lehnen manche Länder jegliche Mitarbeit ab. Daran sehen wir, dass nationales Interesse stärker ist als der Gemeinschaftsgeist. Das geht so nicht!