Martin Perscheids Cartoons waren fester Bestandteil der sozialen Netzwerke. Foto: Lappan/privat

Seine Cartoonfiguren mit ihren dicken Brillen kannte jeder: Martin Perscheids Witze zeigten klare Kante. Nun ist der zeichnende Aufklärer gestorben.

Stuttgart - Der Wahnsinn in den sozialen Netzwerken blüht und gedeiht sowieso. Doch was einem mittlerweile an hanebüchener Geschichtsklitterung, an rechtsradikaler Dumpfheit, an aggressivem Nichtbegreifen historischer Zusammenhänge und sozialer Grundwerte begegnet, das ist schlicht unfassbar. Aber einer hat es dann doch immer wieder geschafft, das in einer kleinen Zeichnung ganz wunderbar zu fassen, zu entlarven – und uns auch noch lachen zu lassen: der Cartoonist Martin Perscheid, der nun im Alter von nur 55 Jahren einer Krebserkrankung erlegen ist.

Wer auf Twitter, Instagram, Facebook unterwegs ist, begegnet Hetzern und Schwurblern. Aber er ist auch den immer wieder geteilten Cartoons von Martin Perscheid begegnet, die nicht nur gestiefelte Glatzen in Krawallstimmung aufs Korn nahmen, sondern auch den Diktaturfreund im guten Bürger sowie alle Mixturen aus Duckmäuserei und Putschbereitschaft. So hat er etwa die „Selbsthilfegruppe der traurigen Nazis“ erfunden. Da hocken ein paar extrem querdenkende Typen im Stuhlkreis, und einer, mit der tröstenden Hand eines anderen auf der Schulter, lamentiert: „Ich habe eigentlich gar nichts gegen den gleichgeschalteten Mainstream. Ich wünsche mir nur den von 1933 zurück.“ So ersetzt ein Bild ganze politische Seminare.

Das Makabre als gute Freundin

Politische Abgründe waren allerdings nicht das einzige Thema von Perscheid. Wie viele Könner seiner Zunft hat er sich mit der ganzen Welt und allen ihren Ecken und Winkeln angelegt. Nichts war ihm zu groß und nichts zu klein, um am jeweiligen Beispiel den Zweifel zu säen, ob es sich beim Menschen wirklich um ein vernunftbegabtes Lebewesen handelt oder ob die Evolution nicht einen katastrophalen Fehler begangen hat, uns an die Spitze der Nahrungskette zu schieben. Das Makabre war ihm dabei nicht fremd, sondern stets eine gute Freundin.

In einem Cartoon guckt einer der typischen dick bebrillten Glatzköpfe, die Perscheids Welt bevölkern, misslaunig in einen für uns nicht einsehbaren wuchtigen Versandkarton. Über dessen geöffneten Deckelklappen surren Schmeißfliegen. Der Mann telefoniert und erklärt: „Es ist wegen der thailändischen Ehefrau, die ich bestellt habe. Da waren keine Luftlöcher im Karton.“ Das ist beinhart, es bringt die Degradierung von Menschen zur Ware und das Machtgefälle von Wohlstandsgebieten zu Armutszonen auf den Punkt. Aber man kann es mit ein klein wenig Mühe als frauenfeindlich missverstehen.

Arbeiten an der Grenze des Unkorrekten

Das absichtliche Missverstehen, die gereizte Ironieabweisung, das missbräuchliche Führen der politischen Korrektheit als Waffe durch Geltungsbedürftige – sie haben Perscheid in den vergangenen Jahren beschäftigt und zu manchem Cartoon inspiriert. Dass er selbst vielleicht nicht immer den ganz richtigen Ton traf, war ihm wohl klar. Der erste seiner vielen, allesamt lesenswerten Cartoonbände im Lappan-Verlag ist 1995 erschienen. Im Lauf der Jahre sammelt sich vieles an, und Perscheid wusste, dass er notwendig stets Grenzen operierte.

Cartoons, das war sein Verständnis der Kunst, müssen übers Schickliche hinausgehen, wenn sie versteckte Wahrheiten dingfest machen wollen. Und so gibt es bei ihm Bilder, die auf den ersten Blick frauenfeindliche Herrenwitze sind, ethnische Stereotypen bestärken oder sonstwie jene aufgeregte Zensurlust aufstacheln könnten, deren neuester Ausgehdress das Anklagen von Retraumatisierungspotenzial zu sein scheint.

Man schämt sich mit

Wer zweimal hinschaut, erkennt das Mehrbödige der Cartoons. Perscheid will nicht nur anprangern, dass diese oder jene Ansicht draußen in der Gesellschaft noch existiert. Er gibt manchmal durch die Zeichnung zu, dass auch er Spaß an einer bestimmten Sorte Migranten- oder Blondinenwitz hat. Und er bringt uns zur Erkenntnis, dass etwas in uns willig mitgrinst. Zugleich sind die archetypischen Perscheid-Figuren in ihren bügelfreien Kunstfaserklamotten in den Farben schlimmer Krankheitsteints beim Demütigen, Anpflaumen, Bekritteln und Bevormunden anderer jedoch so unangenehme Blödbatze, dass eben kein feixendes Einverständnis zwischen Cartoonist, Leser und ungesundem Volksempfinden entsteht. Man schämt sich dann ein bisschen mit, so wie sich Perscheids Figuren schämen sollten.

Perscheid, der 2002 den Max-und Moritz-Preis erhalten hat und der seine Facebook-Seite „Perscheids Abgründe“ als Dauerimpfzentrum gegen dumpfe Bauchgefühle, Verschwörungsgläubigkeit und Youtube-Video-Hörigkeit betrieb, war ein Aufklärer im besten Sinne. Es sagt viel über seine Lebensleistung, aber es es wäre besser, wir müssten das als Gesellschaft zum Abschied nicht konstatieren: Neue Cartoons von Martin Perscheid zu neuen Formen des Wahnsinns werden uns bald sehr, sehr fehlen.

In unserer Bildergalerie finden Sie einige Cartoons von Martin Perscheid, die der Lappan-Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.