Marc Jongen hat maßgeblich am Programm der AfD mitgeschrieben. Foto: dpa

Marc Jongen ist Philosoph und Mitglied der Alternative für Deutschland. Er arbeitet am Weltbild der neuen Rechten und sieht Europa am Beginn eines neuen konservativen Jahrhunderts.

Stuttgart - Es ist keine gute Idee, an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe nach Marc Jongen zu fragen. Studenten, die gerade noch betont cool und locker im Foyer auf den Bänken fläzten, strecken plötzlich ihr Rückgrat, setzen sich auf und werden auffallend schmallippig. Mit spitzem Finger weisen sie den Weg zu seinem Büro. Die Abneigung der Studenten gegen diesen Mann ist in diesem Moment fast körperlich spürbar. Keine Frage: Marc Jongen ist in diesen Hallen eine offensichtlich unerwünschte Person.

Keine Interviews an der Hochschule

Einige Minuten später sitzt Marc Jongen im ausladenden Foyer des angrenzenden Zentrums für Kunst und Medien. Das Foyer ist menschenleer, die Lichter im Café sind aus, die Ausstellung „Frei Otto. Denken in Modellen“ hat gerade geschlossen. Jongen entschuldigt sich für das etwas ungastliche Ambiente und setzt sich auf einen der vielen weißen Plastikstühle an einen kleinen weißen Bistrotisch. Er bittet nicht zum Gespräch in sein Büro; es heißt, er dürfe wegen seiner politischen Aktivitäten keine Interviews an der Hochschule geben.

Wäre Marc Jongen bei den Grünen, Sozialdemokrat oder bei der CDU, würde wohl kein Hahn danach krähen – aber der 48-Jährige ist bei der AfD. Zudem ist er nicht irgendein Parteimitglied, sondern gilt in der Alternative für Deutschland als herausragender Vordenker und hat maßgeblich am Parteiprogramm mitgeschrieben. Das genügte, um in Karlsruhe eine ziemlich große Empörungswelleauszulösen. „Ich habe nicht erwartet, dass die Reaktionen so heftig werden“, gesteht Jongen ein, der an der Hochschule für Gestaltung Philosophie lehrt. Ihn hätten allerdings weniger die Proteste der Studenten überrascht, die sich seiner Meinung nach aus einer Art jugendlichem Reflex gegen „alles irgendwie Rechte“ wenden würden. Jongen sagt: „Mich hat eher erstaunt, was manche Professoren getan haben, die in einem offenen Brief inquisitorisch meine Absetzung als Herausgeber der hochschuleigenen Schriftenreihe gefordert haben.“

Emotionale Distanz zur Hochschule

Marc Jongen haben die Zerwürfnisse von damals offensichtlich tiefer gekränkt, als er zugeben möchte, und er versucht, eine Art emotionaler Distanz zwischen sich und der Hochschule aufzubauen: „Ich habe das alles am Ende eher wie ein Außenstehender gesehen, als Beobachter eines latent totalitären Mechanismus.“

Im Laufe des Gesprächs wird deutlich, dass Marc Jongen das Kapitel Hochschule abgeschlossen hat. Sein Wirkungsraum ist längst die Politik, und das konkrete Ziel ist der Einzug in den Bundestag. Deshalb kandidiert Jongen bei der Bundestagswahl im September in Baden-Württemberg auf dem sicheren Listenplatz 3. „Im akademischen Feld werden viele Theorien und Worte produziert“, erklärt er die Ausgangslage, „aber sehr vieles davon bleibt praktisch ohne Folgen.“ In der Politik aber würden Worte in die Realität überführt, dort könne man gestalten. Was das konkret heißt, muss im Moment allerdings im Ungefähren bleiben, denn realpolitisch ist Marc Jongen noch ein unbeschriebenes Blatt.

Kein einfacher Weg für einen Philosophen

Der Weg in die Politik ist für den Philosophen allerdings kein einfacher Gang, da er auch bei politischen Veranstaltungen nicht einfach aus seiner Haut als Denker schlüpfen kann. So formuliert er bisweilen sehr akademisch klingende Sätze, die das Publikum eher ratlos zurücklassen. In Aalen dozierte er jüngst über die deutsche Leitkultur und „das Volk als psychopolitische Entität, die seit Jahren einer Erosion ausgesetzt ist“. Natürlich sei er kein politischer Haudrauf und wolle auch keiner werden, sagt Jongen. Er suche eine „Hybridform“ zwischen politischer Rede und akademischem Vortrag, ist sich aber im Klaren darüber, dass mit zunehmender Heftigkeit des Wahlkampfes auch er als Feingeist zu gröberen Formulierungen greifen muss.

Das offene Wortgefecht, in dem die Emotionen geschürt werden, müsste dem Philosophen allerdings gefallen, da er immer wieder beklagt, dass die Deutschen an einer „thymotischen Unterversorgung“ litten. Thymos ist ein Wort aus dem Altgriechischen und kann ungefähr mit Wut oder Zorn übersetzt werden und ist zentraler Bestandteil seines Denkens. Da ist Marc Jongen ganz Schüler seines Mentors Peter Sloterdijk, dessen Assistent er in Karlsruhe lange Zeit war. Das Enfant Terrible der deutschen Philosophenszene lieferte im vergangenen Jahr mit seinem Aufsatz „Letzte Ausfahrt Empörung“ über die „Bürgerausschaltung in Demokratien“ dem deutschen Wutbürger den philosophischen Überbau für dessen Tun. In die Nähe der Alternative für Deutschland möchte Sloterdijk allerdings nicht gerückt werden. „Mit dem AfD-Ideen-Müll habe ich nichts zu tun“, polterte er reichlich ungehalten gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Das Verhältnis zwischen den beiden Philosophen scheint im Moment – gelinde gesagt – ziemlich schwierig zu sein.

Die Lehre vom „Thymos“

Auch bei seinem Auftritt in der Stadthalle in Aalen versucht Marc Jongen, den Zuhörern die drei „Seelenfakultäten“ Thymos, Logos und Eros – neben Wut also noch Vernunft und Lust - nahezubringen. Erst mit der nötigen „thymotischen Spannung“ sei das Land auf die künftigen Herausforderungen wie etwa das Eindringen des Islam – eine „hochgepuschte thymotische Bewegung“ – vorbereitet, sagt Jongen. Applaus erhält er im Saal aber erst, als er ins Mikrofon ruft: „Deutschland ist der Staat des deutschen Volkes!“

Deutlich wird, dass Jongen die aktuelle Zeit vor allem durch Krisen bestimmt sieht. In diesem Punkt trifft er sich wohl mit den meisten AfD-Anhängern – auch mit Leuten wie Björn Höcke, die dem völkisch-nationalen Flügel der Partei zuzurechnen sind. Wenn es um den Rechtsaußen aus Thüringen geht, wählt Jongen seine Worte noch genauer als gewöhnlich. Dann spricht er von Mentalitätsunterschieden zwischen West und Ost, Gärungsprozessen innerhalb der Partei und der Hoffnung, dass der rechte Rand lediglich ein Rand bleiben werde. Eine deutliche Distanzierung von Höckes völkischem Geschwurbel über „1000 Jahre Deutschland“ und das „Reproduktionsverhalten der Afrikaner“ hört sich anders an.

Denken in Jahrhundertzyklen

Allerdings sind Marc Jongen die parteiinternen Auseinandersetzungen bisweilen reichlich fremd, in denen es um Macht und Einfluss geht – da ist er doch ganz Philosoph geblieben. Er denkt nicht in Wahlperioden, auch nicht in Jahrzehnten, sondern in Jahrhundertzyklen. In diesem Sinne sieht er ein Jahrhundert zu Ende gehen – das des linken Denkens, das in der 68er-Revolte seinen Höhepunkt hatte und etwa die Auflösung der traditionellen Familie und der Geschlechterrollen mit sich brachte. Oder wie Marc Jongen es etwas apokalyptisch ausdrückt: „Am Ende bleibt da nur Zerstörung.“

Doch das Pendel schwinge nun zurück, ist er überzeugt. Das neue Zeitalter, das der Philosoph durch die immer stärker werdenden national-konservativen Strömungen in Europa anbrechen sieht, laufe der bisherigen Entwicklung entgegen und bekämpfe die Dekonstruktion von Familie, Volk und Kirche. Viele würden sagen, die Uhren würden zurückgedreht. Marc Jongen hätte gegen diese Beschreibung sicher wenig einzuwenden. In seiner Ideenwelt müssen Entwicklungen nicht immer linear vorwärts verlaufen, da kann es durchaus auch einmal kräftig rumpeln.