So sieht „Schwanensee“ 2.0 aus: Marie Chouinard trägt zum neuen Gauthier-Dance-Abend das Tanzstück „Le chant du cygne: Le lac“ bei. Foto: Sylvie-Ann Pare/MCC

Mit vier Gastchoreografen unterzieht Gauthier Dance den Klassikhit „Schwanensee“ einer Revision. Marie Chouinard ist die einzige Frau im Quartett von „Swan Lakes“; Premiere ist am Donnerstag.

Stuttgart - Für viele steht dieser Klassikhit synonym fürs Ballett überhaupt: Weiße Tutus, nach oben strebender Spitzentanz, geometrisch präzise Gruppenmotive machen „Schwanensee“ zum Mythos. Der liefert nicht nur den Stoff für Ballerinenträume, sondern auch für Thriller wie „Black Swan“.

 

Und er befeuerte die Me-Too-Debatte, als sie den Tanz erreicht hatte: Braucht es noch solchen „Ballettplunder“, der Frauen als schwache Wesen darstellt, die von Kavalieren gestützt, gehoben, herumgetragen werden? In einer Zeit, die „Schwanensee“ zum Symbol für überkommene Rollenbilder und den ausbeuterischen Umgang einer Kunstform mit seinem Personal machte, wollte Eric Gauthier den Klassiker einer Revision unterziehen. „Swan Lakes“ lautet der Titel des Projekts, das coronabedingt mehrfach verschoben werden musste. Nun ist es so weit: Am Donnerstag ist Premiere. Und schon zuvor ist klar: Die neue Produktion von Gauthier Dance wird eine der spannendsten dieser Saison sein – und das nicht nur wegen der vier hochkarätigen Choreografen, die der kreative Kopf der Theaterhauskompanie für einen neuen Blick auf den Klassiker gewinnen konnte.

Ein Klassiker auf dem Prüfstand

Neben Hofesh Shechter, Marco Goecke und Cayetano Soto ist die kanadische Choreografin Marie Chouinard die einzige Frau im „Swan Lakes“-Boot. Die Grande Dame des Tanzes aus Gauthiers Heimatstadt Montréal ist in Stuttgart keine Unbekannte, mehrfach zeigte sie beim Colours-Festival neue Produktionen und alte Hits. Bereits 1997 war Chouinard der Star von „Sprachen des Körpers“, gleich mit zwei Programmen war ihre damals noch junge Kompanie zur dritten und letzten Stuttgarter Tanzbiennale eingeladen. Später gastierten die Kanadier häufig in Ludwigsburg und zeigten Stücke wie „Body-Remix“, das Tänzer mit Krücken und Gehhilfen zu seltsamen Wesen verformte, um von der Vergänglichkeit des Körpers und seiner Disziplinierung zu erzählen.

Kunstwerke haben Bestand, sagt Marie Chouinard

Chouinard, ist das nicht die Tänzerin, die auf der Bühne masturbierte, urinierte oder sich selbst versteigerte? Auch wer sich nicht für Tanz interessiert, hat den Namen der Kanadierin vielleicht schon mal gehört. Sie ist also weit vom Verdacht entfernt, möglicherweise zu nett mit „Schwanensee“ umzugehen. Braucht es heute noch solche Stücke im Repertoire? Das fragen wir die Kanadierin, die eine Mitarbeiterin mit den Endproben in Stuttgart beauftragt hat, am Telefon. Und Chouinards Antwort ist eindeutig: „Ja, es ist ein Klassiker. Auch wenn man zum Beispiel nicht mit der Haltung von Pina Bauschs ,Le sacre du printemps‘ einverstanden ist, handelt es sich doch um ein Kunstwerk, das aus einer anderen Epoche kommt und Bestand hat. Aber Sie dürfen sicher sein“, fügt Chouinard hinzu, „das Ballett, das ich gemacht habe, kann man heute tanzen.“

Ein Schwanengesang? Auf keinen Fall, sagt die 66-Jährige

Mit acht Tänzerinnen von Gauthier Dance hatte die Choreografin bereits im Februar 2020 in Kanada mit den Proben begonnen. „Das war eine intensive, außergewöhnliche Begegnung. Da ist wirklich etwas Magisches passiert“, blickt Chouinard zurück. Die weiteren Proben mussten pandemiebedingt dann per Videokonferenz erfolgen. „Le chant du cygne: Le lac“ heißt ihr Beitrag, einen Schwanengesang im übertragenen Sinn hat die 66-jährige Künstlerin aber nicht im Sinn, mit ihrer eigenen Kompanie bereite sie derzeit mehrere neue Produktionen vor, erklärt sie und lacht. Nein, das mit dem Gesang und dem See sei eher konkret gemeint.

Die Frau als Objekt eines Jägers

Da Marie Chouinard die Originalmusik Tschaikowskis nicht besonders mag, hat sie bei Louis Dufort eine neue Komposition in Auftrag gegeben, in denen die bekanntesten Motive als Echo anklingen. „Ich wollte ein Stück in meiner eigenen Ästhetik schaffen. Die Tänzerinnen kreuzen zwar mehrmals die Bühne wie Schwäne. Aber eigentlich interessiert mich vor allem das Verhältnis zum Tod und zum Mann. Der Mann geht in diesem Klassiker auf die Jagd; er hat also eine Beziehung zu anderen, die mit Töten zu tun hat“, sagt die Choreografin zu ihrer Annäherung an das berühmte Ballett von Marius Petipa und Lew Iwanow, in dem ein Prinz mit seinen Freunden zur Jagd aufbricht und auch vor einem Schwan nur deshalb seine Armbrust sinken lässt, da er sich just in diesem Moment in ein menschliches Wesen verwandelt. So tritt die Frau als Opfer eines männlichen Jagdtriebs in den Fokus von „Swan Lakes“.

„Schwanensee“ in Israel? Da fehlt der Bezug zur Realität

Spitzenschuhe macht Marie Chouinard, über eine Hand gestülpt, zu Vogelköpfen, die Tänzerinnen tragen weiße Tutus und weiße Kontaktlinsen, um bis ins letzte Detail hinein vogelähnlich zu sein. Eine durchgängige Geschichte wird „Le chant du cygne: Le lac“ nicht erzählen. „Aber dramaturgisch passiert etwas, das von Anfang bis Ende eine dramatische Entwicklung ergibt“, verspricht Marie Chouinard spannende „Swan Lakes“-Momente.

Gespannt sein darf man auch auf die Beiträge der drei männlichen Choreografen. Auf den von Hofesh Shechter etwa, der betont, dass dieser Klassiker zu der Realität, in der er in Israel aufgewachsen sei, keinerlei Bezug habe. Nun will er das, was ihn an „Schwanensee“ interessiere, auf eine überraschende Art drehen: „Ich will auf die Werte eingehen, die diese Geschichte transportiert. In ihr geht es um Perfektion, Schönheit, aber auch um deren Zerstörung“, sagt Shechter, der seinen Beitrag mit einer Prise Ironie „Swan Cake“ nennt. „Shara Nur“ (Schwarzer See) heißt Marco Goeckes Uraufführung nach einem mongolischen See; Cayetano Sotos setzt in seinem Stück ohne Titel auf sieben Tänzer.

Mit Gauthier Dance durch den Sommer

Termine Mit „Swan Lakes“ zeigt Gauthier Dance vier Uraufführungen von Marie Chouinard, Marco Goecke, Hofesh Shechter und Cayetano Soto. Premiere ist an diesem Donnerstag, 24. Juni, 20 Uhr, im Theaterhaus. Der Vorverkauf läuft auch für die weiteren Vorstellungen bereits – und es gibt tatsächlich noch Karten. Termine sind vom 25. bis 27. Juni sowie am 3. und 4. Juli. TV-Ausstrahlung auf 3 Sat am 28. August, 21 Uhr.

Gastspiele Am 16. Juli gastiert Gauthier Dance mit „Swan Lakes“ beim Festival-Tanz Bozen und vom 20. bis 24. Juli im Stadttheater Fürth.

Sommer Ein „Summertime-Programm“ kompensiert das verschobene Colours-Festival. Als Livepremiere ist „The Dying Swans Experience“ in einem Hybridformat, das Bühnen- und Filmsoli mischt, vom 8. bis 11. Juli im Theaterhaus zu sehen. Nur im Livestream gibt es die jungen Choreografen am 12. Juli um 19.30 Uhr auf dem Theaterhaus-Youtube-Kanal. Auch die „Meet the Talents“-Uraufführungen von fünf jungen Nachwuchschoreografen sind nur digital zu erleben; und zwar in einer Augmented-Reality-App, die am 2. Juli herauskommt. (ak)