Warnerin vor Wölfen: Margaret Atwood hat in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen. Foto: AFP

Sie habe die „Präzision einer Messerwerferin“, sagt ihre Laudatorin über Margaret Atwood, die diesjährige Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Frankfurt - Es war einmal ein junges Mädchen, das wuchs fernab aller Städte und Dörfer im Norden Kanadas auf. Kaninchen und Wölfe waren sein Umgang. So fangen Märchen an und so begann das Leben der diesjährigen Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Margaret Atwood, wie sie es in ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche skizziert. Grimms Märchen bebilderten die Vorstellungskraft des Mädchens während der verregneten Tage in der Waldeinsamkeit, wo ihr Vater Insekten erforschte. Eine Ehrung, wie sie der 75-jährigen Schriftstellerin nun zuteil wird, klingt wie die Erfüllung eines Märchens. Wie man überhaupt ihr umfangreiches, Romane, Essayistik und Lyrik umfassendes Werk unter das Motiv stellen könnte, Fantasie und Wirklichkeit ineinander zu überführen. Damit freilich endet die Beschaulichkeit auch schon. Denn die Märchen, die Atwood in ihrer Rede erwähnt, sind solche, die von ausgepickten Augen und rotglühenden Schuhen handeln. Und das erzählerische Ingenium, das sie inspiriert haben, adressiert seine Geschichten aus der Wildnis der Vorstellungskraft direkt ins Herz der Gegenwart, auch wenn die eine Weile braucht, das zu merken.

In ihrer Laudatio nennt die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse als Beispiel Atwoods vielleicht bekanntestes Buch, den im Orwell-Jahr 1984 in West-Berlin geschriebenen „Report der Magd“. Dieses rabenschwarze Zukunftsgemälde, in dem sich Chauvinismus und Totalitarismus über einer ausgelaugten Welt unheilvoll zusammenballen, erlebe in Zeiten, in denen ein amerikanischer Präsident damit prahle, wo er Frauen gern anfasse, eine fast unwahrscheinliche Renaissance. Ihr Werk zeige, wie Literatur sein muss, um politisch wirksam zu sein. Als Serie hat „The Handmaid’s Tale“, wie der Roman im Original heißt, gerade fünf Emmys gewonnen: „Was“, so Menasse, „kann man sich als Schriftstellerin mehr wünschen, als dass ein altes Werk Jahrzehnte später aktueller und erfolgreicher ist denn je.“

Gut für die Autorin, schlecht für die Wirklichkeit, könnte man erwidern. Und genau an dieses merkwürdige Zusammenspiel knüpft die Geehrte in ihrer Dankesrede an. „Was für ein seltsamer historischer Augenblick“, fragt Atwood und skizziert mit jener von ihrer Laudatorin zuvor gelobten „Präzision einer Messerwerferin“ die Lage in den USA, Großbritannien oder Deutschland. Dort sei nach dem jüngsten Wahlausgang eine Gruft geöffnet worden, von der man noch nicht sagen könne, welche Ungeheuer ihr einmal entsteigen.

Das Unheil brodelt, die Kaninchen spitzen die Ohren

Das Unheil brodelt. Klimawandel, Flutkatastrophen, Flucht, Angst vor Flüchtlingen, das Wohlstandsgefälle, Reiche, die wie Drachen ihren Besitz hüten, die moderne Welt, Roboter, das Internet, in dem Trolle ihr Unwesen treiben - „was immer die Ursache unserer momentanen Veränderungen sein mag, es ist ein Moment, wo die Kaninchen auf dem Feld die Ohren spitzen, weil ein Jäger die Bühne betreten hat“. Und so steht im Mittelpunkt ihrer Rede, wie könnte es anders sein, ein Märchen.

Atwood erzählt von einem Wolf, der sich gar keine Mühe mehr macht, den Schafspelz anzulegen, der den Kaninchen verspricht, ein starker Anführer zu sein, und Eiscreme auf den Bäumen wachsen zu lassen. Die perfekte Zukunft allerdings hat ihren Preis: erst geht es der degenerierten Zivilgesellschaft an den Kragen, dann „diesen Leuten“, und „diese Leute“ variieren von Epoche zu Epoche, mal sind es Hexen, mal Pazifisten. Bis die Kaninchen merken, wem sie sich da anvertraut haben, ist es zu spät. „Man hat uns gewarnt, schon oft, aber irgendwie hilft das nicht unbedingt, zu verhindern, dass diese Geschichte sich in menschlichen Gesellschaften immer wieder von neuem abspielt,“ sagt Atwood. Man denkt insgeheim an die zeitgleich stattfindende Wahl in Österreich.

Was bleibt ist trotz alledem die Hoffnung auf die von der Kanadierin beschworene Kraft der Literatur, unser Denken und Fühlen zu verändern - und ein Satz des in diesem Jahr verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiabo. Mit ihm hat der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, den Festakt eröffnet, er kann auch gut am Ende stehen: „Das Schöne am geschriebenen Wort ist, dass es wie ein Licht der Wahrheit im Dunkeln leuchtet.“