Der G20-Gipfel in Hamburg mit seinen Gewaltexzessen hinterlässt seine Spuren vor allem bei den Polizei. Trotz eines Riesenaufgebotes hat sie die Eskalation nicht verhindern können. Das hat eine Vielzahl von Gründen, die nun rasch ans Licht kommen.
Stuttgart - Direkt im Anschluss an den G20-Gipfel hat bei der Polizei die Manöverkritik begonnen. Am Sonntag feierte Bürgermeister Olaf Scholz die Polizei noch als „Helden“ – und die Einsatzführung sah ihre Strategie vollauf bestätigt. Doch unter der Oberfläche schwelt es mächtig. Sie seien „verheizt“ worden, heißt es zum Beispiel aus den Reihen der Berliner Polizei. Nur wenige beteiligte Beamte wollen sich offen äußern. Generalkritik kommt daher vor allem von den Polizeigewerkschaften.
20 000 Polizeikräfte waren für den Gipfel vorgesehen. Dennoch hat die Hamburger Einsatzleitung vorige Woche eine Masse von Unterstützungskräften aus den Ländern und von der Bundespolizei nachgefordert. So wurde bereits offenkundig, dass der Umfang des Einsatzes falsch eingeschätzt worden ist: „Davon war die Polizei sicherlich überrascht, weil sie mit solch Guerilla-ähnlichen Taktiken der Autonomen nicht gerechnet hat“, sagte Ernst G. Walter, Vorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft dieser Zeitung. „Das ist eine Strategie, die wir so in dieser Dimension noch nicht gesehen haben.“ Dazu gehören die permanenten Ortswechsel, aber auch das ständige Umkleiden, das Tarnen und Täuschen. An vielen Orten gleichzeitig tätig zu werden, habe nicht funktioniert. „Darauf kann man nur mit mehr Personal reagieren.“
Wieviele Demonstranten und Polizisten wurden in Hamburg verletzt? Und welche Vorwürfe stehen nun im Raum? Sehen Sie die Bilanz des G20-Treffens im Video:
Überrascht vom Ausmaß importierter Gewalt
Viel Gewalt wurde durch Chaoten aus anderen Ländern importiert. Seit Mitte Juni, so Walter, seien die Grenzkontrollen darauf ausgerichtet gewesen – in der Folge habe es einige Aufgriffe gegeben. Doch organisierten sich die Linksradikalen in Europa „wohl in einem stärkeren Ausmaß, als wir das bisher vermutet haben“. Unerwartet kam auch das Ausmaß der Brutalität auf Seiten der Autonomen. Die Aktionen hätten sich im Prinzip zwar abgezeichnet durch das ungestörte Vorgehen der linken Zentren. „Da musste man von einer Menge radikaler Autonomen ausgehen“, sagt der oberste Bundespolizeivertreter in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Doch so viel Gewalt hätte selbst die Polizei nicht für möglich gehalten.
„Potenzielle Mörder auf den Dächern“
Immer wieder versuchten die Einsatzkräfte mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken, die Chaoten zurückzudrängen – vergeblich. Walter fordert nun, die Polizei angemessen mit Abwehrmitteln auszustatten. „Wir müssen uns angesichts von 476 verletzten Polizisten fragen, ob unsere Mittel noch ausreichen.“ Wer Polizisten mit Gehwegplatten und Pflastersteinen, mit Eisenstangen und Stahlkugeln aus Zwillen, mit Pyrotechnik und Molotowcocktails angreife, der nehme sogar deren Tod billigend in Kauf. „Das sind ja potenzielle Mörder, die da oben auf den Dächern herumtoben.“ Wer nicht wolle, dass dabei Schusswaffen zum Einsatz kommen, müsse zumindest über den Einsatz alternativer Distanzwaffen wie Gummigeschossen für die Polizei nachdenken. Zudem bräuchte diese viel mehr geschützte Fahrzeuge. „Mit den derzeitigen Mitteln können wir der Gewalt nicht mehr Herr werden.“
Besonders viele Verletzte zu beklagen
Die Bundespolizei hat mit 118 einen erheblichen Teil der verletzten Beamten zu beklagen. Grund: Die sogenannten Festnahme-Hundertschaften bildeten in Hamburg die Speerspitze. „Sie werden in die Brennpunkte geschickt, weil sie es besser können“, sagt Walter. In einem Fall habe Pyrotechnik eine schwere Augenverletzung verursacht, zwei weitere Beamten müssen noch stationär behandelt werden. Ähnliches gilt für die einsatzerfahrenen Berliner Polizisten, die am Donnerstag zur Auflösung der „Welcome to hell“-Demonstration entsandt wurden und nun mindestens 130 Verletzte in ihren Reihen zählen.
Auch die technische Ausstattung lässt noch zu wünschen übrig. Nach Aussage eines Beteiligten haben 30 Hundertschaften über einen Digitalfunkkanal kommuniziert und wegen Beeinträchtigungen auf ihre Handys umsteigen müssen. „Der Digitalfunk ist schon super in Deutschland“, sagt Walter, der auf eine Abdeckung von 99,9 Prozent bundesweit verweist. Dies schaffe kein Mobilfunknetz. Wenn jedoch alle auf einmal telefonierten, zudem Tausende von Rettungskräften und THWlern, dann komme es zu Störungen. „Auf Riesenlagen kann man kein Funknetz aufbauen.“
Streckenschutz können auch Angestellte machen
Die Stimmung bei den Uniformierten ist nun im Keller: „Wenn die Leute 60 Stunden im Einsatz sind, nach 90 Kilometer Fahrt ins Hotel kommen, kurz eine Suppe essen und nach einer halben Stunde wieder alarmiert werden, weil insgesamt nicht genügend Personal da ist, dann ist das frustrierend für die Kollegen“, betont Walter. Es müsse daher für die Zukunft erwogen werden, ob ausschließlich Polizisten für den Streckenschutz benötigt werden, der einen „gigantischen Aufwand“ bedeute – die „personalintensivste Maßnahme während des Gipfels“. Ähnliches gelte für den Objektschutz, denn zahlreiche Züge wurden für die Sicherung der Hotels eingeteilt. Diese Aufgaben könnten auch Polizeiangestellte übernehmen, versichert Walter. Einige Länder wie Berlin würden ihre Kräfte von kleineren Vollzugsaufgaben entlasten.
Ischinger: In München wäre das nicht passiert
Nach Ansicht des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, wären Krawalle wie in der Hansestadt „uns in München nicht passiert“. Dort kenne die Polizei „jeden Kanaldeckel“, während die Hamburger vor „neuartigen Herausforderungen“ gestanden hätten. DPolG-Vize Walter kann dem im Prinzip zustimmen. München habe diesbezüglich ein anderes Klima als Hamburg mit seinem Zentrum der linken und autonomen Szene. Dass Bürgermeister Scholz den Gipfel mit einem Hafenfest verglichen hätte, sei eine „krasse Fehleinschätzung“ gewesen. Der Sozialdemokrat solle „zur Besinnung kommen und seine Politik gegenüber den linken Zentren ändern“. Den Rücktritt mag Walter nicht offensiv fordern, so wie DPolG-Chef Rainer Wendt, „denn damit wäre kein Politikwechsel eingeleitet“.