Vor 150 Jahren kam Peter Schäfer zur Welt. Der kleinwüchsige, geistige behinderte Mann galt über seinen Tod hinaus als Symbol für Mannheimer Schlagfertigkeit – und wurde doch zeitlebens auch als Witzfigur vorgeführt.
Auf einer bewaldeten Anhöhe, abseits des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden (PZN), liegt der Wieslocher Anstaltsfriedhof. In Reih und Glied angeordnet finden sich hier Hunderte von kleinen, grauen Grabsteinen. Alle gleich groß und in Kreuzform. Nicht voneinander zu unterscheiden. Nur eines der Gräber sticht heraus. Es ist das Grab von Peter Schäfer, versehen mit einem Schild „Blumenpeter“.
Stefan Kiefer, Pflegefachmann der PZN-Klinik für Suchttherapie, begleitet immer wieder Patienten und Besucher zum Grab, wenn sie ihn danach fragen. Dann erzählt er vom Leben und vom Sterben des geistig und körperlich behinderten Peter Schäfer. Der „Blumepeter“ ist auch heute noch präsent.
Denn lange Zeit galt er als Symbol für Mannheimer Witz und Schlagfertigkeit. In den 50er und 60er Jahren waren unzählige Bücher mit „Original-Blumepeter-Witzen“ wie diesem gedruckt worden: „Blumepeter, warum hängschn vunn der Neckarbrick ä Uhr runner ins Wasser?“ – „Isch du Fisch fange.“ – „Awwer midd derre Uhr konnsch doch kää Fisch fange.“ – „Ah heer, des geht schunn. Wonn die Fisch nooch der Uhrzeit gugge, donn pack isch mer se.“
Kleinwüchsig und geistig eingeschränkt
Zeitzeugen, die Peter Schäfer gekannt haben, erinnern sich nicht an solche Witze aus seinem Mund: „Da sind viele von anderen erfunden und dem Blumepeter zugeschoben worden“, hat Willi Tronser (1904-2007) einmal in einem Interview geschildert: „Der Blumepeter war in meinen Augen ein armer Kerl und ist missbraucht worden.“
Als junger Beamter war Willi Tronser beim Fürsorgeamt Mannheim für Schäfers Betreuung zuständig. Schon als Kind hat er den „Blumepeter“ auf den Mannheimer Straßen erlebt: „Ich erinnere mich an einen Fastnachtsumzug, da saß er auf einer Pferdedroschke neben dem Kutscher, man hat ihn fastnachtlich zurechtgemacht. Ich war etwa zehn Jahre alt und hab mich gar nicht daran erfreuen können – weil der mir leid getan hat und gewissermaßen zum Gespött der Tausenden von Menschen da oben saß.“
Peter Schäfer kommt am 5. April 1875 in Plankstadt als unehelicher Sohn der Tagelöhnerin Barbara Berlinghof zur Welt. Erst Jahre später wird das Kind als Sohn des Maurers Joseph Schäfer legitimiert. Da lebt die Familie Schäfer mit einem halben Dutzend weiterer Kinder bereits in Mannheim. Peter ist kleinwüchsig und geistig eingeschränkt. Nach heutigen Erkenntnissen Resultat einer Unterfunktion der Schilddrüse. „Heute ist das einfach zu behandeln“, sagt Stefan Kiefer, „damals galt es als unheilbar.“
In Gaststätte verkauft er Blumensträuße
Bei Peter Schäfer führt die unbehandelte Erkrankung zu Minderwuchs, Intelligenzminderung und Knochenveränderungen. Damit er etwas zum Lebensunterhalt der Familie beiträgt, schicken sie den drolligen kleinen Kerl in Gaststätten und lassen ihn Blumensträuße verkaufen. Mit nasaler Fistelstimme bettelt er die Leute an. „Kaaf mer ebbes ab.“ – „Und wenn man ihm geantwortet hat: ,Peter heute nicht’, dann war er zufrieden und ging weiter“, erinnert sich Willi Tronser. „Er blieb meistens in der einfachen Gegend. Kam aber auch in bürgerliche Lokale wie die Landkutsch. Die Gäste haben das nicht beanstandet, sie steckten ihm was zu und akzeptierten ihn als armen Menschen.“
Ein armer Mensch, den viele Mannheimer auch vorgeführt haben. Es gibt Bilder vom „Blumepeter“ als Fußballer, Ringer und Gewichtheber. Christian Buck hat das in einem Interview im Jahr 2000 eingeordnet: „Das war eine Gaudi mit einem schwer behinderten Menschen. Das stimmt, das geb‘ ich ehrlich zu. Aber es war halt damals so.“ Christians Bucks Vater Karl, ein bekannter Geschäftsmann und Unterhaltungskünstler, bringt den „Blumepeter“ bei Sitzungen der Karnevalsgesellschaft „Feuerio“ auf die Bühne. Nach dem Tod von Schäfers Eltern hilft Buck Senior den Geschwistern bei der Betreuung ihres behinderten Bruders.
Der ist längst nicht mehr der niedliche kleine Kerl. Wenn sie ihm seine Blumensträuße nicht abkaufen, kann der „Blumepeter“ schon mal aggressiv und ausfallend werden. Er fällt immer häufiger aus der Rolle, beginnt Frauen zu begrapschen oder präsentiert sein Geschlechtsteil. Im November 1919 wird er vom Bezirksamt Mannheim entmündigt, im Dezember 1919 in die Kreis- und Pflegeanstalt Weinheim eingeliefert.
Mehrfach flieht er aus der Anstalt
Patient Schäfer, 44, wird in der Krankenakte als „Kretin“ bezeichnet. Das Personal scheint mit dem unflätigen Kerl überfordert zu sein. Mehrfach nimmt er Reißaus, schlägt sich nach Mannheim durch, wird immer wieder in die Anstalt zurückgebracht.
Zehn Jahre später, Schäfers Verhalten hat sich nicht gebessert, weist ihn der Anstaltsarzt Dr. Dürner als unheilbar krank in die geschlossene Abteilung der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch ein. Knapp zwei Monate später führt ein Arzt dort ein Gespräch mit dem Patienten und notiert danach den Verlauf der Unterhaltung. Es ist das einzige erhaltene Dokument, in dem Peter Schäfer wenigstens indirekt zu Wort kommt.
„Auf Frage nach Exhibitionismus wird er erregt und sagt: Er sei anständig, wisse, was sich gehört“, ist in der Krankenakte nachzulesen. „In Weinheim habe er geweint, doch hier gefalle es ihm besser, hier bleibe er immer. Will jetzt unbedingt eine Frau haben, er sei ja nicht dumm. Will Schwergewichtler werden, um seine Frau zu ernähren . . . Sei jetzt 54 Jahre, voriges Jahr sei er 42 Jahre gewesen. 2 x 5 = 7, Rechnen Null . . . Er renommiert damit, daß ihn die Studenten manchmal zu Mädchen mitgenommen hätten und daß er es da gemacht habe. Sprache unbeholfen, teilweise kaum verständlich . . .“
Die Zeit nach der NS-Machtergreifung in der Anstalt Wiesloch
Danach gibt es nur noch wenige Einträge in der Krankenakte von Peter Schäfer. Wenn überhaupt, wird der Zustand des Patienten als kindlich zutraulich, dann wieder als stürmisch losbrüllend beschrieben. Mal heult Schäfer vor Angst. Dann stört er und geht zu anderen ins Bett. Viel mehr gibt es nicht über den Patienten zu notieren.
Auch nicht, als nach der NS-Machtergreifung in der Anstalt Wiesloch die neuen Psychiatrie-Regeln Einzug halten. Es wird drastisch an Personal, Verpflegung, Medikation gespart – und das Zwangssterilisationsgesetz rigoros angewendet. Schäfer wird nicht sterilisiert. Unter den Wieslocher Patienten, die in der Sprache der Nationalsozialisten als „lebensunwert“ bezeichnet werden, genießt der „Blumepeter“ eine gewisse Prominenz.
Irmgard Rapp hat sich im Jahr 2000 daran erinnert, wie sie damals als Medizinstudentin mit einer Gästegruppe der Universität Heidelberg die Wieslocher Anstalt besuchte: „Ein Wärter fragte: ‚Ist jemand von Mannheim dabei?‘ Meine Freundin und ich haben ganz sachte unsere Finger gehoben, dann rief der Mann: ‚Blumepeter, komm mal her.‘ Darauf kam ein Mann, circa 1,20 Meter groß, sehr großer Kopf, große Ohren, ein sehr faltiges durchfurchtes Gesicht. Es lag, würde ich nachträglich sagen, ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht. Er kam zu uns, nahm die Hand und schüttelte sie ganz heftig.“
Das sogenannte Euthanasieprogramm der Nazis
Die finanzielle Betreuung von Peter Schäfer liegt in der Verantwortung von Willi Tronser beim Fürsorgeamt Mannheim: „Er war gepflegt“, erzählt Tronser, „ordentlich soweit. Vielleicht auch noch etwas zurecht gemacht – das Heim wollte sich ja auch gut darstellen, was verständlich ist. Aber der Blumepeter war zu einer selbstständigen Handlung nicht in der Lage.“
1940 beginnt die Mordaktion T4, das sogenannte Euthanasieprogramm der Nazis. Die Anstaltsleitung schickt mehr als die Hälfte der Wieslocher Patienten in die Tötungsanstalten nach Grafeneck und Hadamar. In den Akten und gegenüber den Angehörigen wird der Massenmord an mehr als 1300 Patienten aus Wiesloch vertuscht.
Am 15. Juni 1940 stirbt Peter Schäfer mit 65 Jahren an „Herzinsuffizienz“. So notiert es der Anstaltsleiter Dr. Wilhelm Möckel eigenhändig in die Krankenakte des „Blumepeter“. Ist Peter Schäfer tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben? Oder hat man etwas nachgeholfen, um dem prominenten Patienten einen absehbaren Transport in die Tötungsanstalt zu ersparen? Die Nachricht von Schäfers Tod erhält Willi Tronser im Fürsorgeamt per Telefon am Montag, dem 17. Juni 1940: „Wir haben uns unsere Gedanken gemacht. Und wie dann das mit der Euthanasie bekannt wurde, habe ich gedacht: Peter, das ist dir erspart geblieben.“
Aam 18. Juni 1940 wird er in aller Stille beigesetzt
Verstorbene Patienten sind damals stets am Heimatort zu beerdigen. Den Angehörigen der Euthanasie-Opfer schickt man deshalb die Urnen nach Hause. Doch der Leichnam von Peter Schäfer wird bereits am 18. Juni 1940 in aller Stille auf dem Wieslocher Anstaltsfriedhof beigesetzt. Weder Familienangehörige noch das Fürsorgeamt Mannheim werden darüber in Kenntnis gesetzt.
Frank Janzowski, Autor eines Buches über die Geschichte der Wieslocher Psychiatrie während der NS-Zeit, hat folgende Erklärung: „Ich denke, man wollte sein Hirn haben und hat das dann auf die Art und Weise abgekürzt. Wenn er nach Mannheim gekommen und dort begraben worden wäre, das wäre schwieriger gewesen.“
Der Verbleib des Gehirns ist unbekannt. Am 20. Juni 1940, fünf Tage nach dem Ableben von Peter Schäfer, stellt Direktor Möckel den Totenschein aus. Zwei Tage später wird die gleichgeschaltete Mannheimer Lokalpresse informiert. Tags darauf, am 23. Juni 1940, erscheint im „Hakenkreuzbanner“ ein Nachruf auf den „Blumepeter“.
Blumepeter mutiert zur Symbolfigur für Witz und Schlagfertigkeit
Paris ist gerade von der Wehrmacht besetzt worden. Das Dritte Reich, sein Führer und sein Volk scheinen großen Zeiten entgegen zu gehen. Doch fünf Jahre später ist der Krieg aus, 80 Prozent der Mannheimer Innenstadt ausgebombt, die schöne Gründerzeitarchitektur ein für alle Mal zerstört.
Eine Brücke in die vermeintlich so glückliche, große Zeit der Jahrhundertwende schlägt ausgerechnet der „Blumepeter“. Zuerst erscheinen Bücher mit Blumepeter-Witzen aus den besseren Tagen der Mannheimer Stadtgeschichte. Allmählich mutiert der kleine Kerl zur Symbolfigur für Witz und Schlagfertigkeit. 1967 setzen die Stadt und der „Mannheimer Morgen“ dem „Blumepeter“ ein Denkmal (später folgt die Gemeinde Plankstadt diesem Beispiel). Oberbürgermeister Hans Reschke verkündet damals: „Ich habe mich immer nach einer solchen Art Denkmal gesehnt, das gewidmet ist einem solchen aus dem täglichen Leben Mannheims gegriffenen Menschen.“
Das „Blumepeter“-Denkmal von Bildhauer Gerd Dehof steht noch immer, wurde auf die Kapuziner-Planken versetzt, am Rande der Fußgängerzone. Und noch immer wird Jahr für Jahr eine Auszeichnung verliehen – der „Mannheimer Bloomaulorden“ (in Form einer Blumepeter-Figur) für gesellschaftliches Engagement und Bürgersinn.
Es gibt vieles, für das Peter Schäfer heute stehen kann
Ulrich Nieß, der ehemalige Direktor des Mannheimer Stadtarchivs, hat 2011 den „Bloomaulorden“ erhalten. Als Mannheimer Bürger ist er stolz darauf. Als Historiker kennt Nieß aber natürlich die Geschichte von Peter Schäfer: „Bei der Stadt schwingt mit Sicherheit auch das schlechte Gewissen mit. Ob Schäfer ein Opfer der Euthanasie wurde, wusste man nicht genau. Auf jeden Fall aber war er ein Opfer der NS-Psychiatrie, die Menschen weggesperrt, ausgesperrt und ihnen alle Grundrechte genommen hat.“
Es gibt vieles, für das Peter Schäfer heute stehen kann. Für die Verdrängung der deutschen Vergangenheit. Für die Erinnerung an die Opfer der NS-Euthanasie. Für die Frage nach Inklusion und den Umgang mit behinderten Menschen. All das bewegt Stefan Kiefer. Er wird Besuchern und Patienten des PZN Wiesloch weiter kostenlose Führungen zu Schäfers Grab anbieten: „Sein Schicksal steht für mich auch in gewisser Weise stellvertretend für viele Opfer hier aus Wiesloch. Was man auf jeden Fall für heute lernen kann, ist ein offener Umgang, bei dem immer der Patient im Mittelpunkt stehen sollte.“