Ein 52-Jähriger ist des Kindesmissbrauchs angeklagt Foto: dpa/David Ebener

Ein Mann aus Backnang hat ein Mädchen jahrelang zu sexuellen Handlungen genötigt – ihn erwarten jetzt gut drei Jahre Haft. Immer wieder bricht er vor Gericht in Tränen aus.

Der Kalender der Geschädigten war der Schlüssel: Weil eine junge Frau den Missbrauch, von dem sie betroffen war, inklusive der Details in winziger Schrift dokumentiert hatte, konnte das Landgericht Stuttgart am Freitag Zahl und Art der Taten recht genau umreißen. Der Mann auf der Anklagebank soll die damals 12-Jährige ab dem Jahr 2016 immer wieder zu sexuellen Handlungen genötigt haben. 45 Fälle sexuellen Missbrauchs, meist schwerer Art, werden dem 52-Jährigen vorgeworfen.

Zwischen dem zweifachen Familienvater und dem Mädchen aus der Nachbarschaft war ein Vertrauensverhältnis entstanden, weil das Mädchen mit seinen Kindern befreundet war. Im Jahr 2016, als die Zwölfjährige in der Wohnung übernachtete und die Frau und die Kinder des Angeklagten im Schlafzimmer schliefen, kam es zu ersten körperlichen Übergriffen. Meist handelte es sich um Berührungen oder Küsse und gegenseitige Befriedigung beziehungsweise ein Eindringen mit der Hand. Dies zog sich über Jahre hin. Die häufigen Übernachtungsbesuche des Mädchens bei den befreundeten Nachbarn erregten bei ihren Eltern offenbar keinen Verdacht. „Sie hatte eine starke emotionale Bindung zu ihm“, beschrieb eine Kriminalbeamtin das Verhältnis der beiden.

Nur Sex mit unter 14-Jährigen ist grundsätzlich strafbar

Verhandelt wurden lediglich Fälle, in denen das Mädchen jünger als 14 Jahre alt war, denn nur unter dieser Altersgrenze sind sexuelle Handlungen von Erwachsenen grundsätzlich strafbar. In diesem Sommer, nachdem sie in ihrem Umfeld mit einem Missbrauchsfall konfrontiert war, hat sich die heute 19-Jährige entschieden, den Mann anzuzeigen. Seit August sitzt er in U-Haft.

Beim Prozessauftakt vor dem Landgericht flossen viele Tränen. Allerdings nicht bei der inzwischen 19 Jahre alten Geschädigten: Die junge Frau verfolgte die Verhandlung von der Zuschauerbank aus, weil ihr durch das Geständnis eine Aussage erspart blieb. Ihre Äußerungen aus dem Polizeiprotokoll wurden nichtöffentlich verlesen. Vielmehr war es der Angeklagte, der immer wieder hemmungslos weinte. Vor allem war das der Fall, als es darum ging, dass ihn eine Haftstrafe erwartet, als seine wegen des Missbrauchs zerbrochene Ehe thematisiert wurde, als er erzählte, wie abfällig seine Mitgefangenen über Frauen reden und dass er aufpassen müssen, als „Weichei“ nicht verprügelt zu werden. Er brach auch in Tränen aus, als er schilderte, wie er auf der Arbeitsstelle verhaftet wurde – oder als er erklärte, er habe seinen Beruf als Arbeitserzieher ethisch nicht mehr verantworten können, weil dort Behinderte „zu Akkordarbeit gezwungen“ würden.

Eine knappe Stellungnahme als Geständnis

In einer äußerst knappen Stellungnahme seines Anwalts räumte der 52-Jährige die meisten Vorwürfe gegen ihn ein, nur in einer Handvoll Fälle gab es Abweichungen. Einen Entschuldigungsversuch bei der Betroffenen gab es laut unseren Informationen zumindest bislang nicht. Die junge Frau hat aufgrund der Erlebnisse eine posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen, sie entwickelte einen Waschzwang und ist inzwischen in einer Wohngruppe untergebracht. Bis heute hat sie Probleme, körperliche Beziehungen einzugehen. Vor Gericht erschien die 19-Jährige mit einer Betreuerin.

Wegen der Vielzahl der Taten – und weil es in einem großen Teil der Fälle um einen schweren Missbrauch geht, der mit einem Eindringen in den Körper eines Kindes verbunden war – steht fest, dass dem 52-Jährigen eine Haftstrafe von drei bis dreieinhalb Jahren bevorsteht. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Verteidiger haben einem entsprechenden Deal zugestimmt. Die Voraussetzung dafür war ein umfassendes Geständnis. Am Montag werden die Plädoyers gesprochen – und möglicherweise auch das Urteil fallen.

Hätten die Taten schneller aufgedeckt werden können? Diese Frage stellt sich nach vielen Missbrauchsfällen, so auch nach diesem. Die damalige Frau des Angeklagten, der das innige Verhältnis ihres Mannes zu dem fremden Kind unangenehm war, erkundigte sich laut einer Zeugenaussage schon recht früh beim Jugendamt in Backnang – und soll als Antwort von der Behörde erhalten haben, solange keine stichhaltigen Beweise für sexuelle Handlungen vorlägen, könne man nichts tun. Die Ermittlungen der Polizei in der Sache gestalteten sich schwierig. Mitarbeiter des Jugendamtes sollen sich, so eine Kriminalbeamtin vor Gericht, trotz eines richterlichen Beschlusses zur Akteneinsicht nicht gerade kooperativ verhalten haben. Warum dies so war, wird wohl auch der Prozess nicht mehr ans Licht bringen.