Justitia blickt auch auf Juristen prüfend herab Foto: dpa

Ein Rechtsanwalt aus dem Landkreis Esslingen hat einen Strafbefehl bekommen, weil er Mandantengelder veruntreut hat. Doch beim Opfer löst das keine Freude aus – denn der Mann kann bisher weiter als Anwalt arbeiten.

Stuttgart - „Ich kann das alles nicht fassen“, sagt Susanne S. (Name geändert). Wie in einem Albtraum fühlt sich die Frau aus Stuttgart, die vor einigen Jahren mit ihrem Mann ins Ausland gezogen ist. Als in der alten Heimat ein Haus verkauft werden musste, floss der Erlös zunächst aufs Konto des Anwalts des Ehepaars. Doch der Mann aus dem Landkreis Esslingen behielt das Geld. Vier Jahre lang. Nur scheibchenweise überwies er kleinere Beträge.

Die Ermittlungen der Polizei ergaben, dass er das Geld wohl nutzte, um immer wieder persönliche Außenstände zu bezahlen – unter anderem höhere Beträge beim Versorgungswerk der Rechtsanwälte und bei der Rechtsanwaltskammer Stuttgart. Die Familie von Susanne S. geriet zunehmend in finanzielle Not. Ihr Mann starb schließlich vor einigen Monaten an einem Herzinfarkt. Auslöser, sagt die Frau, sei der mutmaßlich kriminelle Anwalt gewesen. Bis heute fehlen mehrere Zehntausend Euro von der ursprünglichen Kaufsumme.

Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen jetzt abgeschlossen. Der Anwalt hat einen Strafbefehl wegen der Veruntreuung von Mandantengeldern bekommen – und offenbar akzeptiert. Laut einer Sprecherin der Staatsanwaltschaft liegt das Strafmaß „knapp unterhalb“ der möglichen Höchststrafe von einem Jahr Haft auf Bewährung. Das sei für einen solchen Fall durchaus „heftig“.

Der Betroffene vergibt nach wie vor Termine

„Ich finde, dass die Strafe sehr milde ausfällt“, kritisiert dagegen Susanne S. Es ist aber etwas anderes, das sie noch viel mehr belastet: Trotz des Strafbefehls arbeitet der Betroffene nach wie vor als Anwalt. „Eine Freundin von mir hat vor kurzem zum Test dort angerufen – und problemlos einen Termin bekommen“, erzählt sie. Und fügt hinzu: „Dass die zuständige Rechtsanwaltskammer, bei der wir uns schon vor langer Zeit beschwert haben, sich nicht bewegt und keinen der notwendigen Schritte unternimmt, kann ich nicht verstehen.“

Die Rechtsanwaltskammer Stuttgart will diese Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. Zum konkreten Fall dürfe man zwar keine Angaben machen, sagt Präsidentin Ulrike Paul, aber: „Allgemein ist ein Widerruf der Zulassung wegen des Eingriffs in die Freiheit der Berufsausübung an strenge Voraussetzungen geknüpft.“ In der Regel erhalte die Kammer eine Mitteilung von den Ermittlungsbehörden, wenn gegen ein Mitglied ermittelt werde. Normalerweise setze man das berufsrechtliche Verfahren bis zum Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen aus. Danach werde entschieden, ob man bei der Generalstaatsanwaltschaft beantrage, ein anwaltsgerichtliches Verfahren einzuleiten. Nur so könne etwa ein vorläufiges Berufs- und Vertretungsverbot verhängt werden. „Solche Maßnahmen kann die Rechtsanwaltskammer nicht selbst durchsetzen“, sagt Paul.

Im vorliegenden Fall ist das Verfahren offenbar tatsächlich von der Kammer an die Generalstaatsanwaltschaft abgegeben worden. Das hat Susanne S. beim Justizministerium erfahren. Ob und wann berufsrechtliche Schritte eingeleitet werden, ist jedoch offen. So lange kann der betroffene Anwalt jedenfalls weitermachen und Mandanten betreuen. „Dass er immer noch als Anwalt arbeiten darf, ist mir unerklärlich“, sagt Susanne S. kopfschüttelnd. Der betroffene Rechtsanwalt will sich auf Anfrage unserer Zeitung nicht äußern.

117 ernst zu nehmende Beschwerden innerhalb eines Jahres

Der Fall ist nicht der einzige, in dem sich Anwälte mit Vorwürfen konfrontiert sehen. Im Jahr 2014 sind bei der Stuttgarter Rechtsanwaltskammer mit ihren 7300 Mitgliedern 1329 Beschwerden eingereicht worden. Die meisten davon haben sich schnell als unbegründet erwiesen, so dass letztlich 117 näher behandelt worden sind. Zum Widerruf der Zulassung wegen strafrechtlicher Belange kommt es letztendlich nur selten.

Und doch tauchen immer wieder spektakuläre Fälle auf, in denen Rechtsanwälte selbst auf der Anklagebank landen. Bekanntestes Beispiel aus dem Raum Stuttgart ist der sogenannte Fesselsex-Prozess. Vor einigen Jahren ist ein Anwalt vom Landgericht in zweiter Instanz vom Vorwurf der uneidlichen Falschaussage freigesprochen worden. Zuvor war seine Schwiegermutter zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil sie den Mann bei Fesselspielen beinahe umgebracht haben soll. Wer dabei wann gelogen hatte, blieb bis zum Schluss ungeklärt.

Susanne S. jedenfalls hat das Vertrauen in die deutsche Justiz inzwischen verloren. „Dieser Mann hat mit unserem Geld sein Haus, sein Auto und teure Urlaubsreisen abbezahlt“, sagt sie. „Und er kann trotzdem noch immer einfach weiterarbeiten. Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Zumal die mehreren Zehntausend Euro nach wie vor fehlen. Ob sie ihr Geld jemals wiederbekommt? Susanne S. weiß es bis heute nicht.

Hintergrund: Zulassung von Rechtsanwälten

Für die Zulassung von Rechtsanwälten sind die Rechtsanwaltskammern zuständig. In Baden-Württemberg gibt es sie in Stuttgart, Tübingen, Karlsruhe und Freiburg. Dort sind alle Rechtsanwälte im Land Mitglied. Derzeit sind es insgesamt gut 17 500. Die Kammern sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und unterliegen der Staatsaufsicht. Zu ihren Aufgaben gehört auch das Verfolgen von Beschwerden gegen Mitglieder.

Wer glaubt, dass ein Rechtsanwalt seine Berufspflichten verletzt hat, kann der jeweiligen Kammer eine Beschwerde schicken. Diese darf nicht anonym sein, sondern muss alle Beteiligten benennen.

Die Kammer hört ihr Mitglied zu den Vorwürfen an. Kommt sie zum Schluss, dass ein Verstoß vorliegt, kann sie je nach Schwere eine Beanstandung oder Rüge aussprechen oder den Vorgang an die Generalstaatsanwaltschaft übergeben. Diese leitet ein anwaltsgerichtliches Verfahren ein.

Der Widerruf der Zulassung eines Rechtsanwalts kann aus unterschiedlichen, klar definierten Gründen erfolgen. Dazu gehört eine strafgerichtliche Verurteilung, die dem Betroffenen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter abspricht. Auch ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Anwalts oder eine Tätigkeit, die das Vertrauen in seine Unabhängigkeit gefährdet, zählen dazu. (jbo)