Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Wir blicken auf Orte, Fassaden, Kulturdenkmäler, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: die Mammutbäume.
Stuttgart - Mammutbäume sind die ältesten, größten und mächtigsten Bäume der Erdgeschichte. Jeder USA-Reiseführer bildet den größten unter den Riesen ab: General Sherman heißt er, ist circa 3200 Jahre alt und steht im Sequoia-Nationalpark in Kalifornien. Er reckt sich 84 Meter in die Höhe und misst 31 Meter im Umfang.
Die Saat der Sequoien hingegen ist so klein, dass man sie vor jedem Luftzug schützen muss: Hauchdünne Plättchen, Haferflocken ähnlich, aber um einiges leichter. Sie rascheln in einer Petrischale, die Micha Sonnenfroh hin- und herschüttelt. Der Garten- und Landschaftsarchitekt ist Fachbereichsleiter Parkpflege bei der Wilhelma und Hüter über eine der denkwürdigen Hinterlassenschaften von König Wilhelm I.: rund 100 Mammutbäume in Stuttgart und 200 weitere in ganz Baden-Württemberg.
„Mitte des 19. Jahrhunderts erzählten die ersten Händler und Reisenden von den Mammutbäumen in Kalifornien, und der König war völlig begeistert von den Riesen“, sagt Micha Sonnenfroh. Also habe er im Jahr 1864 die königliche Bau- und Gartendirektion beauftragt, gemeinsam mit der Forstdirektion ein Pfund Samen aus Nordamerika zu beziehen. Ein Jahr später verzeichnet der Geschäftsbericht der Königlichen Bau- und Garten-Direktion vom 12. August „5000 kräftige Pflanzen“, die aus dem Saatgut gewonnen worden seien.
Doch stimmt das mit dem Pfund Samen wirklich? Oder liegt die Legende, der Lutz Krüger auf der Spur ist, näher an der Wahrheit? Demnach hätte die Bau- und Gartendirektion des Königs nur „ein Loth“ des Samens bestellt, ein Gewicht, das sich im Gramm-Bereich bewegt. Da der Samen so federleicht ist, hätte diese Menge absolut ausgereicht, um unter den Augen des Königs mehrere exotische Exemplare aufwachsen zu lassen. In Amerika aber verstand man stattdessen „a lot of“, womit eine große Menge oder schwäbisch: ein Haufen gemeint ist. Krüger, Informatiker, Mammutbaum-Liebhaber und Initiator eines Internet-Registers für Mammutbäume, hält es für möglich, aber nicht für wahrscheinlicher als alle anderen Legenden. Allein, ein endgültiger Nachweis fehlt.
Am Register für die Riesen aber ist er drangeblieben, es erfasst inzwischen rund 80 Prozent der baden-württembergischen und 40 Prozent der bayerischen Standorte.
Verbürgt ist auch, dass die Gärtner die Saat aus Amerika im Kalthaus der Wilhelma groß gezogen und nach einem Jahr in Gärten verschult haben. Ihren endgültigen Standort fanden 35 der Setzlinge in der Wilhelma selbst, im Rosensteinpark, im Solitude- und Pfaffenwald, in Hohenheim sowie an 70 weiteren Standorten in Schlossgärten, Wäldern und Parkanlagen Baden-Württembergs.
5000 Exemplare! Das war sogar für die weitläufigsten königlichen Flächen zu viel. Also durfte die Forstdirektion die Hälfte der jungen Pflanzen auch an Privatleute verkaufen. Drei Gulden und 36 Kreuzer hat das Dutzend Pflanzen gekostet, ein Luxus, den sich nur Besitzer großer Gärten und wohlhabende Villenbewohner leisteten. So sind bis heute noch auf den Halbhöhen und Höhen einzelne Exemplare zu finden, deren Herkunft auf die Wilhelma-Saat zurückgeht.
Rätselhaft ist eine Baumgruppe von mehr als 40 Sequoien etwas unterhalb der Neuen Weinsteige, dem heutigen Wernhaldenpark. Wie konnten dort mehr Bäume gepflanzt werden als in der Wilhelma, König Wilhelms liebstem Kind? Der Park ist jung, angelegt um 1980. Wege sind angelegt, Trockenmauern wurden gesetzt, eine Holzbrücke führt über eine kleine Klinge, und der Blick erfasst die gesamte Stadt bis zum äußersten Zipfel im Norden. Davor hatte die Stadt mehrere Gartengrundstücke aufgekauft und zu einem Ganzen zusammengefügt. Und davor hieß das Gelände „Schickler’scher Garten“.
Wenn ein Herr namens Schickler also viele Setzlinge von König Wilhelm kaufen konnte, muss er wohlhabend gewesen sein. Oder er wollte seine Gewogenheit beweisen. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: War Schickler vielleicht Experte?
Einiges spricht dafür: 1855 erscheint im „Wochenblatt für Land- und Forstwissenschaft“ Nr. 8 eine Annonce: „Samen der neuen Zuckerpflanze, das Loth zu 12 kr (Kreuzer), sind bei Handelsgärtner C. Schickler in Stuttgart zu erhalten.“ Und im Jahr 1859 inseriert C. Schickler im „Schwäbischen Merkur“: „Zuckermoorhirsensamen von letzter Ernte ist nunmehr eingetroffen und kann billigst bezogen werden.“ Es ist also durchaus möglich, dass der Handelsgärtner an der Neuen Weinsteige einen Garten hatte und dort die Wilhelma-Saat eingepflanzt hat. Oder: Er war gar derjenige, der die Samen für König Wilhelm aus der Neuen Welt bezogen hat und dafür mit einer großen Menge beschenkt worden ist.
Nicht nur Lutz Krüger, auch historisch Interessierte in der Stadt haben sich jetzt auf die Spuren Schicklers begeben. Die Geschichte der Wilhelma-Saat wird also über die Erst- und Zweitpflanzungen hinaus fortgeschrieben. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang auch klären, ob die königlichen Bau- und Gartendirektoren ein Loth, a lot of oder ein Pfund Samen bestellt haben.
Lebewesen aus der Saurierzeit
Vor 65 Millionen Jahren wuchsen bereits Mammutbäume auf allen Erdteilen und zu Zeiten, als es auch Saurier gab. Nur in Schluchten an den Westhängen der Sierra Nevada (Kalifornien) haben Mammutbäume die letzte Eiszeit überlebt
35 der Mammutbäume in der Wilhelma stammen aus der Saat von König Wilhelm I. (Wilhelma-Saat), inzwischen ist das Wäldchen auf 70 Exemplare angewachsen
Mit 37 Metern Höhe ist der Mammutbaum im Mammut-Wäldchen gegenüber des Pekari-Geheges das höchste Exemplar aus der Wilhelma-Saat auf dem Gelände des Zoologisch-Botanischen Gartens, der dickste Baum mit 4,7 Meter Umfang steht am Eingang zum Betriebshof
Rund 200 Exemplare in Baden-Württemberg stammen noch heute aus der Wilhelma-Saat
Mehr als 2500 Jahre alt können Mammutbäume an ihrem ursprünglichen Standort in Kalifornien werden