Malteser und Feuerwehr simulieren in Stuttgart gemeinsam einen Autounfall. Der Rettungsdienst ist nur eine der Säulen der katholischen Hilfsorganisation. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Seit 60 Jahren gibt es den Malteser Hilfsdienst in der Stadt Stuttgart und in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Die Aufgaben haben sich gewandelt. Eine Geschichte von zerschnittenen Autos, dem Glasmännlein und zutraulichen Eichhörnchen.

Stuttgart - Die Sonnenstrahlen schimmern durch das gelbe Laub der Bäume. Ein leichter Wind streicht durch die Wipfel. Plötzlich huscht ein buschiges Etwas vorbei. Ein Eichhörnchen springt vorsichtig näher. Erst eins, dann ein zweites, schließlich ein drittes. Bis auf eine Armlänge kommen sie heran und beäugen die Besucher neugierig. „Wir sind praktisch die Paten von vielen Eichhörnchen“, sagt Helga Kaiser und schmunzelt. Eine geradezu rührende Szene.

Sie spielt sich an einem ungewöhnlichen Ort ab – auf dem Stuttgarter Hoppenlau-Friedhof hinter der Liederhalle. Zwischen historischen Grabsteinen sitzt Helga Kaiser in ihrem Rollstuhl und blinzelt in die Sonne. Die Endsiebzigerin ist nicht alleine gekommen, sondern mit der Hilfe von Gabriele Appel. Die arbeitet hauptamtlich als Sorglos-Begleiterin der Malteser.

Einmal in der Woche holt sie Helga Kaiser im benachbarten Pflegeheim Paulinenpark ab – zu einer ganz besonderen Mission. Die beiden zieht es zum Grab des Dichters Wilhelm Hauff. Dort packen sie ein Buch aus – und lesen gemeinsam sein Märchen „Das kalte Herz“. Die alte Dame, die Theater liebt, im Liederkranz gesungen hat, einem Literaturkreis angehörte und viele Bilder malt, hat es sich so gewünscht. Eine ganz besondere Atmosphäre herrscht dabei unter der Linde in dem verwunschenen Winkel.

Das Menschliche im Vordergrund

„Ich habe das Gefühl, dass das sehr lohnend ist. Es ist so schön hier, wie in einem Park“, sagt Helga Kaiser – und blickt scheinbar erschrocken auf. „Haben Sie’s gesehen, das Glasmännlein?“, fragt sie augenzwinkernd. Fast könnte man meinen, der Charakter aus dem Märchen habe tatsächlich hinter einem Stein hervorgelugt.

Gabriele Appel begleitet seit sechs Jahren Menschen, die hilfebedürftig sind. Ganz unterschiedliche Dinge erlebt sie dabei. „Das ist auch für mich eine Bereicherung. Ich habe vorher zum Beispiel noch nie am Grab eines Dichters gesessen und seine Werke gelesen“, sagt sie. Ihre Aufgabe nimmt sie sehr ernst: „Ich glaube, dass nicht nur die körperliche Pflege wichtig ist, sondern auch die soziale. Das Menschliche.“

Das ist ganz im Sinne des Leitspruchs des Malteser Hilfsdienstes. „Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen“ lautet der. 1953 ist die katholische Hilfsorganisation vom Deutschen Caritasverband und zwei Gliederungen des Malteserordens in Nordrhein-Westfalen gegründet worden. In der Stadt Stuttgart und der Diözese Rottenburg-Stuttgart gibt es sie seit 1959.

4300 Helfer

In diesen 60 Jahren haben sich die Aufgaben gewandelt. Am Anfang ging es meist um die Ausbildung der Bevölkerung in Erster Hilfe und im Katastrophenschutz. Heute ist das Spektrum viel größer. 63 000 Mitglieder und Förderer zählen die Malteser in der Diözese. 3000 aktive ehrenamtliche Helfer und noch einmal 1300 Hauptamtliche kümmern sich um die unterschiedlichsten Aufgaben. Dazu gehören auch 22 Rettungswachen. Rettungskräfte werden fortgebildet, etwa beim Zentrum für Simulation und Patientensicherheit in Stuttgart-Wangen. Dort werden bei gemeinsamen Trainings mit der Feuerwehr schon mal Autos zerschnitten.

Viel ruhiger geht es dagegen bei der Begleitung von alten oder kranken Menschen zu. Auch in der Jugend- und Auslandsarbeit sind die Malteser aktiv. Dazu kommen Krankentransport, Hausnotruf, Menüservice und ambulante Pflege. In der Böheimstraße betreiben sie eine Arztpraxis für Menschen ohne Krankenversicherung. Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann lobt auch den großen Einsatz in der Flüchtlingshilfe. „Dass sich die Malteser um jeden Einzelnen kümmern, unabhängig von persönlichen Schicksalen oder widrigen Bedingungen, ist eine Bereicherung für die gesamte Stadt“, sagt sie.

Angesichts der Bevölkerungsentwicklung bildet derzeit der Ausbau der Angebote für Ältere einen Schwerpunkt. „Wir haben ganz neu zum Beispiel einen Telefonbesuchsdienst oder einen Besuchsdienst mit Hund. Zusätzlich aufbauen wollen wir jetzt auch einen Kulturbegleitdienst“, sagt Sprecherin Petra Ipp-Zavazal. Für diese Aufgaben suche man immer wieder ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.

Große Jubiläumsfeier

Die Jubiläumsfeier zum 60. Geburtstag wird man in der Stadt nicht überhören oder übersehen können. An diesem Samstag beginnt sie um 13 Uhr mit einem Festgottesdienst in der Domkirche St. Eberhard an der Königstraße. Danach ziehen die teils prominenten Gäste mit dem Malteser Fanfarenzug aus Ravensburg hinüber in die Staatsgalerie zum Festakt.

Gabriele Appel und Helga Kaiser sind derweil mit ihrer Lesung fertig für diesen Tag. Die Sonne steht schon tief und schafft es gerade noch durch die Blätter. „Haben Sie das Glasmännlein gesehen?“, ruft die ältere Dame da plötzlich ganz ernst – und setzt nur Sekunden später ein Grinsen auf: „Es war zu schnell. Es ist mit dem Fahrrad gefahren.“