700 Menschen demonstrierten am 1. Mai gegen Ungerechtigkeiten gegenüber Arbeitnehmern. Harte Kritik richtete sich gegen die Tarifverträge im öffentlichen Dienst. Die populäre Tarifflucht verursache Schaden bei der gesamten Gesellschaft.
Knapp 700 Demonstranten halten Plakate ihrer Gewerkschaften hoch, schwenken Verdi-Flaggen, rasseln und tröten, um sich Gehör zu verschaffen. Ihr Ziel: der Marktplatz in Sindelfingen, wo sich die Demonstration in den letzten Jahren fast schon zum Familienevent entwickelt hat. Kinderschminken und Fressbuden inklusive. Während die Atmosphäre fröhlich ist, befassen sich die Redner bei der Kundgebung unter der Überschrift „ungebrochen solidarisch“ mit weniger vergnüglichen Themen.
Knapp 100 Demonstranten kommen von der IGBCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie). Diese möchten damit ein Zeichen gegen die Personaleinsparungen des Böblinger Chemieunternehmens Schill und Seilacher setzen. Wie IGBCE-Vertreterin Catharina Clay erklärt, sollen mit diesen Einsparungen die steigenden Rohstoff- und Transportkosten aufgefangen werden. „100 Kollegen sollen steigende Kosten bezahlen, indem sie rausfliegen“, empört sie sich. „Die 300, die bleiben dürfen, sollen durch Verzichte auf tarifliche Leistungen mitbezahlen.“ Die IGBCE fordere mehr Mitbestimmung bei Betriebsveränderungen sowie Strafen für diejenigen, die die Rechte von Arbeitnehmern missachten.
Auch Reiche und Superreiche seien mit Steuergeld entlastet worden
Auch Hauptredner Uwe Meinhardt von der IG Metall hat bei der Kundgebung einiges zu beklagen. Sein erster Kritikpunkt gilt den Maßnahmen, die zur finanziellen Entlastung der Bürger getroffen wurden. „Diese sind nicht ungebrochen solidarisch“, sagt er. „Hat doch die FDP dafür gesorgt, dass auch alle Wohlhabenden, Reichen und Superreichen, die es nicht gebraucht hätten, mit Steuergeld entlastet wurden.“
Uwe Meinhardt kritisiert darüber hinaus die Profitgier. Als Beispiel nennt er hier den immer weiter steigenden Anteil von privaten Krankenhäusern. „Weil Gesundheit wie auch alles andere im Leben zur Ware erklärt wurde, mit der man Geld verdienen kann“, sagt Meinhardt und erntet damit zustimmenden Jubel. Wenn es eine Lehre aus der Coronapandemie gebe, dann die, dass alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht länger der Profitmacherei unterworfen werden dürften.
Mit den Tarifverhandlungen der Gewerkschaften spricht Uwe Meinhardt außerdem einen weiteren, schwierigen Punkt an. „Führende Politiker der FDP redeten mit Blick auf die Gewerkschaften und Tarifverträge davon, dass man die Frösche nicht fragen dürfe, wenn man den Sumpf trockenlegen will.“ Im Ergebnis würden heute nur noch 52 Prozent der Kollegen mit Tarifbindung arbeiten. „Ohne Tarif haben Menschen im Schnitt 20 Prozent weniger Einkommen, aber deutlich längere Arbeitszeiten.“ Das sei nicht nur unsozial, sondern verursache großen Schaden. Konkret: 30 Milliarden Euro weniger Sozialversicherungseinnahmen, 18 Milliarden weniger Einkommensteuer und 42 Milliarden weniger Einkommen und Kaufkraft.
Aufwertung bei Sozial- und Erziehungsdiensten dringend nötig
Auch Farina Semler, stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), macht auf die Auswirkungen der Tarifverträge aufmerksam. Ihr Augenmerk gilt dabei den Sozial- und Erziehungsdiensten, wo eine weitere Aufwertung dringend notwendig sei. „Die Branche braucht eine Ausbildungskampagne und muss attraktiver werden.“ Dazu gehörten faire Arbeitsbedingungen und kleinere Gruppen in Kitas. Auch in den Schulen müssten Veränderungen her: Die Landesregierung stelle nicht ausreichend Studienplätze zur Verfügung, die Teilzeitmöglichkeiten seien enorm eingeschränkt. Dem gegenüber stehe die Doppelbelastung der Lehrer, die die Defizite aus der Coronapandemie auffangen und Schüler aus anderen Ländern unterstützen müssten. Und das bei verhältnismäßig schlechter Bezahlung.