Die stellvertretende Leiterin des Stadtpalais, Edith Neumann, die Journalistin Waltraud Leucht und der Künstler Juergen Czwienk, haben im Juli den Stolperstein präsentiert. Foto:  

Seit Juli erinnert eine Hörstation mit Handkurbel am Stadtpalais an ein Stuttgarter Opfer der NS-Kindereuthanasie. Sie stieß auf große Resonanz und wird nun dauerhaft installiert.

S-Mitte - Klara Leuchts Mutter Ernestine schrieb 1941 einen Brief an die Leitung der Kinderfachabteilung im hessischen Eichberg. Sie plage Heimweh nach ihrem Klärchen, offenbarte sie. Die Stuttgarterin erhielt einige Zeit später ein Schreiben aus Eichberg. „Lungenentzündung bei Idiotie“ lautete die aus medizinischer Sicht grotesk anmutende Diagnose auf dem Totenschein.

Hinter dem Begriff „Kinderfachabteilung“ verbargen sich nach 1939 rund 30 Mordeinrichtungen im Deutschen Reich. Ärzte ermordeten dort Kinder wie Klara Leucht mit überdosierten Schlafmitteln.

Die Station liest Briefe vor

Eine Stele steht seit Juli am Eingang zum Stadtpalais an der Urbanstraße. Eine Hörstation ist auf ihr installiert. Wer eine Handkurbel betätigt, kann sich vertonte Briefe der Eltern des Mädchens anhören oder Stellungnahmen der Ärzte.

In ihnen wird erkennbar, wie stark der Jargon des Nationalsozialismus akademische Kreise infiziert hatte. Mediziner beschreiben Leucht in ihren Berichten etwa als „idiotisch" oder „vollkommen verblödet“. Zunächst war geplant, die mobile Stele nur einige Wochen aufzustellen. Doch das Stadtmuseum hat sich entschieden, dass das Gedenken an Klara Leucht an Ort und Stelle auf Dauer bleiben soll. „„Viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter ,stolpern‘ über den Akustischen Stolperstein und erfahren so mehr über die bewegende Geschichte der Klara Leucht. Wir möchten dem kleinen Hördenkmal an der Urbanstraße bald noch mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit am Stadtpalais verschaffen“, meint die stellvertretende Leiterin des Stadtmuseums, Edith Neumann.

Künstler entwarf Lautsprecher

Der Wiesbadener Medienkünstler und Filmregisseur Jürgen Czwienk hat die Hörstation entworfen. Er bezeichnet sie als „akustischen Stolperstein“. Denn wie die von dem Kölner Künstler Gunter Demnig seit Jahren in Gehwegen verlegten Gedenktafeln erinnert auch der von ihm entwickelte Lautsprecher mit Handkurbel an ein Opfer des Nationalsozialismus. Czwienk will im kommenden Jahr ein Double des Apparats auf Reisen schicken an Orte, in denen Euthanasie-Verbrechen geschahen. Die Hörstation am Stadtpalais soll derweil eine fest im Boden verankerte Stele und eine optisch auffälligere Gestaltung erhalten, erklärt der Medienkünstler. Czwienk kann sich vorstellen, mit ähnlichen Hörstationen an andere Opfer der NS-Krankenmorde zu erinnern. Das Konzept bewähre sich in Zeiten, in denen viele das Gedenken an die NS-Verbrechen als formelhaft kritisieren, meint er.

Kurbel und Lautsprecher machten Passanten neugierig, sagt der Künstler. Dann müssen sie den akustischen Erinnerungsprozess mit der Hand am Laufen halten. „Jeder kann entscheiden, ob er sich die Texte ganz anhört, oder ob er abbricht. Das ist ein aktiver Prozess“, sagt er.

Zuhörer müssen aktiv werden

Der Medienkünstler hat nicht nur die Hörstation vor dem Stadtpalais entworfen. Er half auch der Nichte von Klara Leucht, weiße Flecken in der Familiengeschichte mit Wissen zu füllen. Czwienk kontaktierte Waltraut Leucht, nachdem er im Internet von ihrer Spurensuche nach der ermordeten Tante gelesen hatte. Leucht hatte ihre Erfahrungen in einem Bericht aufgeschrieben. Er trägt den Titel: „Wo ist Tante Klara?“. Czwienk war zuvor bei einer Recherche zum Thema Euthanasie in Akten auf den Namen Klara Leuchts gestoßen war. Czwienk ließ der Nichte die Dokumente in Kopie zu kommen. Sie enthielten unter anderem den Brief von Ernestine Leucht und die Berichte der NS-Ärzte. Waltraud Leucht erfuhr so, dass ihre Tante 1941 im hessischen Eichberg ermordet worden ist. Czwienk entwarf dann die Hörstation, die an das Schicksal Leuchts erinnern soll.

Nichte findet Grab

Waltrauf Leucht freut sich, dass die Höranlage auf Dauer vor dem Stadtpalais verbleibt. Sie bedankt sich bei Czwienk für sein Engagement. „Vor einem Jahr wusste ich nicht, was aus meiner Tante geworden ist. Jetzt hat sich mein Leben ein bisschen verändert“, meint sie.

Auf dem sozialen Netzwerk „Facebook“ gibt es eine eigene Seite für den akustischen Stolperstein. Ein Beitrag von Anfang Oktober verkündet, dass Waltraud Leucht das Grab ihrer Tante in Eichberg gefunden habe. „Es gibt nun eine Nummer, die dem Grab meiner Tante zugeordnet wird. Wo es genau liegt, weiß ich noch nicht“, sagt sie. Bei einem Besuch in Eichberg wurde sie jüngst über ein Feld geführt, auf dem andere Opfer verscharrt worden sind. „Da liegen unzählige Gebeine, wurde mir gesagt“, meint Leucht. Sie will nun noch einmal nach Eichberg fahren, nun wo es eine endgültige Antwort gibt auf die Frage, wo Tante Klara ist.