Protest beim Wahlkampfauftritt von Fritz Kuhn Foto: Leif Piechowski

Manche Erbschaft von seinem Amtsvorgänger würde Fritz Kuhn wohl gern ausschlagen. Doch das OB-Amt gibt es nur ganz oder gar nicht. Also wird Kuhn mit Stuttgart 21 leben müssen. Er kann es auch gestalten.

Stuttgart - Auch Wolfgang Schuster (CDU) hat Stuttgart 21 nur geerbt. Sein Vorgänger Manfred Rommel (CDU) hatte das Bahn- und Städtebauprojekt gemeinsam mit dem damaligen Bahn-Chef Heinz Dürr aufs Gleis gesetzt. Die Erlöse aus dem Verkauf der durch die Tieferlegung von Bahnhof und Strecken frei werdenden Gleisflächen sollten den Neubau überwiegend finanzieren. Die Investition sollte für die Bahn sehr rentierlich sein.

Kuhn hat das schon 1996 als Landtagsabgeordneter bezweifelt. 16 Jahre später erhielt nicht nur er Gewissheit. Bahn-Chef Rüdiger Grube und Technikvorstand Volker Kefer präsentierten dem Aufsichtsrat des Bundesunternehmens vor Weihnachten eine Rechnung, die eine Finanzierungslücke von 2,8 Milliarden Euro auf die bisher maximal veranschlagten 4,5 Milliarden Euro offenbarte. Die Bahn will davon 1,1 Milliarden selbst übernehmen. Für die weiteren rund 1,2 Milliarden Euro bleiben nur das Land und dessen Partner Stadt, Region und Flughafen Stuttgart. Der Bund hat den Finanzierungsvertrag nicht unterschrieben. Das Angebot der Bahn solle die „Befriedung des Projekts“ fördern und die „Motivation aller am Projekt Beteiligten stärken“, sagt Kefer. Kuhn kann damit kaum gemeint sein.

Kuhn könnte Stadt aus Verein für Stuttgart 21 zurückziehen

Das neue Stadtoberhaupt ist noch immer nicht überzeugt, dass es richtig ist, für „fünf bis zehn Milliarden Euro einen Bahnhof unter die Erde zu legen, der am Ende möglicherweise zu geringe Kapazitäten aufweist“, hatte Kuhn im Wahlkampf gesagt. Und, dass auch ihn das Ergebnis des Volksentscheids zur Landesbeteiligung an Stuttgart 21 binde. Dann gibt es da noch den Finanzierungsvertrag, in dem von einer Projektförderpflicht aller Partner die Rede ist. Was nicht heißt, dass Kuhn seine Überzeugung aufgeben muss. Er kann sogar freier agieren als der vom sozialdemokratischen Koalitionspartner immer wieder eingebremste Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).

Wie er agieren könnte? Zum Beispiel so: Der Verein Bahnprojekt Stuttgart–Ulm ist die Werbeplattform für Stuttgart 21. Er betreibt ein Kommunikationsbüro und über den Verein Turmforum e. V. die Ausstellung im Bahnhofsturm. Das Land hat seine Zahlungen für diese Werbung längst eingestellt. Die Stadt aber ist bei der Werbeplattforum nach wie vor mit im Boot. Dagegen ließen sich Argumente finden. Zum Beispiel könnte es Kuhn an der in der Satzung festgeschriebenen umfassenden Information und Transparenz mangeln. Der Ausstieg aus dem Verein Bahnprojekt Stuttgart–Ulm wäre ein Symbol. Sparen ließen sich jährlich nur 100 Euro Mitgliedsbeitrag.

Beim Verein Turmforum geht es um eine sechsstellige Summe. Die Mitgliedschaft ist freiwillig, nicht durch den Finanzierungsvertrag vorgegeben. Im Turm würde dann zwar vielleicht der durch Stuttgart 21 mögliche Städtebau nicht mehr dargestellt werden, der findet sich aber auch im Rathaus. Kuhn könnte mit dem Ausstieg den Vorwurf der Projektgegner entkräften, S 21 über die Maßen zu unterstützen.

Rosensteinviertel kommt frühestens 2023

Beispiel 2: Die Öffentlichkeitsarbeit wird im S-21-Sprecherbüro auch von einer Beschäftigten geleistet, die als Bürgerbeauftragte ihr Salär aus der Stadtkasse erhält. Eine Abgrenzung zwischen den durchaus unterschiedlichen Interessen der Bahn und der Stadt findet so nicht statt. Die Baustellen des Tiefbahnhofs und der Tunnel werden Pendlern wie Anwohnern Belastungen bringen. Dann muss die Stadt handeln. Kuhn könnte die Interessen besser vertreten lassen, wenn er die Bürgerbeauftragte aus dem Sprecherbüro abzieht.

Noch ein Beispiel: Das neue Stadtviertel. OB Wolfgang Schuster hat früh eine Bürgerinformation über das Rosensteinviertel gestartet. Mit dem Bau des neuen Wohnquartiers am Schlossgarten kann aber erst begonnen werden, wenn Stuttgart 21 fertig ist und alle Gleise abgebaut sind. Vielleicht 2023. Kuhn könnte die Infoveranstaltungen zum Rosensteinviertel als verfrüht beenden und das Interesse der Bürger auf absehbar bebaubare Flächen oder andere Projekte wie die Energiewende lenken.

Viel früher aber wird Kuhn in Sachen Rosensteinpark gefordert sein. Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt wird die Bahn dort rund 80 große Bäume fällen wollen. Kuhn hatte schon vor den Fällarbeiten im Schlossgarten gewarnt, dass die Bahn wegen fehlender Genehmigungen nicht werde bauen könne. Das war richtig. Die Bäume hätten ein Jahr länger stehen bleiben können.

Mit Kuhn erhält der Verkehrsminister einen Bruder im Geiste

Beim Tiefbahnhof droht wegen ungeklärter Brandschutz- und Rettungsprobleme der Einbau zusätzlicher Treppenhäuser, die sich auch auf dem Bahnhofsdach, dem Straßburger Platz, deutlich abzeichnen würden. Die Stadt wird diesen Platz übernehmen. Ob er durch zusätzliche Aufbauten noch sinnvoll bespielbar und für das Stadtbild erträglich ist, muss Fritz Kuhn rechtzeitig klären lassen. Auch bei einem anderen wichtigen Thema wird Kuhn nicht an Stuttgart 21 vorbeikommen. Er will 20 Prozent weniger Autoverkehr im Stuttgarter Kessel. Das geht nur, wenn zahlreiche Pendler Nahverkehrszüge oder die S-Bahn nutzen. Das Angebot müsste ausgebaut werden. Brigitte Dahlbender, Landesvorsitzende des Bunds für Umwelt und Naturschutz, hält das Ziel wegen Stuttgart 21 „auf absehbare Zeit für nicht umsetzbar“. Wenn das tatsächlich so sein sollte, müsste Kuhn Alternativen aufzeigen.

Im Lenkungskreis für das Projekt Stuttgart 21 wird Kuhn Bahn-Chef Grube oder Technikvorstand Kefer ganz nah sein. Er bringt aber vor allem dem bisherigen Einzelkämpfer Winfried Hermann Beistand. Mit Kuhn erhält der Verkehrsminister einen Bruder im Geiste. Die Bahn muss mit schärferem Gegenwind rechnen, wenn sie wie bisher Unterlagen zurückhält oder zu spät präsentiert. Konflikte sind für Kuhn beim Thema Stuttgart 21 insgesamt programmiert. Für die Bahn auch. Mit Wolfgang Schuster verliert sie nach 16 Jahren einen starken Förderer.