Präsident Claus Vogt hat den gesamten VfB Stuttgart herausgefordert. Ist er damit zu weit gegangen? Vieles spricht dafür.
Stuttgart - Sechsundzwanzig lange Wintertage hat Claus Vogt geschwiegen. Am letzten Tag des alten Jahres hatte der Präsident des VfB Stuttgart in einem offenen Brief auf die schweren Anschuldigungen von Thomas Hitzlsperger reagiert – und konnte anschließend dabei zuschauen, wie nicht nur der Vorstandsvorsitzende des Fußball-Bundesligisten in immer größere Bedrängnis geriet. Sondern auch der ganze Club, dem er seit Dezember 2019 vorsteht und in dem er so viele Feinde hat.
Am Mittwochvormittag hat Claus Vogt (51) sein Schweigen unvermittelt gebrochen – und nicht nur das: Mit seiner öffentlichen Ankündigung, die Mitgliederversammlung im Alleingang vom März in den September verlegen zu wollen, wurde der VfB erneut in seinen Grundfesten erschüttert. Der zuvor beispiellose Machtkampf ist damit endgültig zur größten Zerreißprobe in der Geschichte des Sportvereins aus Bad Cannstatt geworden. Die Gefechtslage ist von jetzt an eindeutig: einer gegen alle.
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Für seine Kriegserklärung an den Rest der VfB-Führung hat der Familienvater aus Waldenbuch von der einen Seite Beifall bekommen, von der anderen vernichtende Kritik. Die große Frage lautet nun: Ist Claus Vogt mit seinem so mutigen wie waghalsigen Manöver mindestens einen Schritt zu weit gegangen? Hat er damit zwar Rückgrat bewiesen, am meisten aber sich selbst geschadet, so wie Thomas Hitzlsperger mit seinem offenen Brief am Tag vor Silvester, in dem er seine Kandidatur als Präsident erklärte? In jedem Falle hat die Führungskrise beim VfB, die den Anhang seit Wochen in Atem hält, abermals eine neue, vielleicht sogar seine spektakulärste Wendung genommen.
Ein undurchsichtiges, mit allen Tricks geführtes Machtspiel
Bis Mittwoch war es Claus Vogt, der in den Augen vieler Beobachter der einzig Gute war in diesem undurchsichtigen, mit allen Tricks geführten Machtspiel. Schließlich hatte erstens nicht er, sondern Hitzlsperger die Lawine losgetreten. Zweitens stärkten auch die durch Recherchen unserer Redaktion an die Öffentlichkeit gekommenen Berichte der Kanzlei Esecon über die interne Aufklärung der Datenaffäre sein Ansehen. Aus ihnen ging unzweifelhaft hervor, was Vogt, der zu allem entschlossene Aufklärer, schon zuvor angeprangert hatte: dass beim VfB zumindest am Anfang sehr viel dafür getan wurde, um zu verschleiern, warum und von wem rund um die Ausgliederung 2017 Zehntausende von Mitgliederdaten an Dritte gegeben worden waren.
Seine Position ist bei Außenstehenden also immer stärker geworden, nicht nur beim Anhang, sondern auch bei vielen ehemaligen VfB-Spielern. Trotzdem hatte Vogt offenbar gute Gründe, anzunehmen, dass ihm von der Mehrheit des Vereinsbeirats die Gelegenheit genommen werden sollte, sich den Mitgliedern zur Wiederwahl zu stellen. Die Liste an Unzuverlässigkeiten in der Gremienarbeit, sagen seine Gegner, sei lang. Zuletzt waren zwei Schlichtungsanträge der anderen Präsidiumsmitglieder beim Vereinsbeirat eingegangen, da Vogt offenbar Fristen verstreichen lassen wollte, um nicht fristgerecht zur Mitgliederversammlung einladen zu können.
Zu eindeutig sollen demnach die Signale gewesen sein. Also trat der Präsident in der festen Überzeugung, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben, die Flucht nach vorne an. Mit den Vorwürfen gegenüber seinen Präsidiumsmitgliedern, die ihn bedrängt und ihm gedroht hätten, setzte er alles auf eine Karte – und lieferte damit der anderen Seite die Argumente für eine Nichtnominierung, die zuvor so schwer zu vermitteln gewesen wäre.
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Jetzt sind es nicht mehr nur seine Gegner in den eigenen Reihen, denen er neue Angriffsflächen geboten hat. Auch viele bisherige Vogt-Befürworter können seinen Schritt nur schwer nachvollziehen und fragen sich: Wenn einer so vorgeht und bereit ist, als Einzelner den gesamten Club herauszufordern – ist er dann geeignet, einen Verein mit mehr als 70 000 Mitgliedern zu führen?
In den Hintergrund treten die von Vogt angeführten und nachvollziehbaren Gründe, die für eine auch von zahlreichen Fangruppierungen geforderte Verlegung der Mitgliederversammlung sprechen: die technischen Unsicherheiten, die eine digitale Veranstaltung beinhalten würde; die Sorge, dass nicht alle zu Wort kommen könnten; der Umstand, dass weiter darüber gestritten wird, welche Anwälte nach Vorliegen des Abschlussberichts zur Datenaffäre die juristische Bewertung vornehmen. Dass er sich auf einer Präsenzveranstaltung bessere Chancen ausrechnet hätte, wiedergewählt zu werden – auch das dürfte Teil der Wahrheit sein.
Und in den Hintergrund treten vorerst die spannenden und noch immer zu klärenden Fragen, warum Vogt schon vorher so viele Feinde hatte, warum es innerhalb des Clubs schon vorher ein solch großes Interesse daran gab, ihn aus dem Amt zu drängen. Jetzt dreht sich die Debatte vor allem um das Vorgehen des Präsidenten.
Der VfB-Freundeskreis und Timo Hildebrand schütteln den Kopf
„Die Interessen des VfB Stuttgart stehen über allen persönlichen Belangen. Die Kandidaten für das Amt des Präsidenten, Claus Vogt und Thomas Hitzlsperger, fordern wir auf, ihre Kandidatur im Sinne der Zukunft des VfB zurückzuziehen“, teilt der VfB-Freundeskreis am Donnerstag mit und spricht sich klar gegen eine Verschiebung der Mitgliederversammlung, denn: „Eine Fortführung dieses Zustands bis in den Spätsommer schadet dem VfB im Ganzen.“ Auch Timo Hildebrand meldet sich zu Wort: „Erfolg hat man nur als Einheit“, schreibt der frühere Meistertorwart in seinen sozialen Netzwerken: „Das Ego eines Einzelnen sollte nie über einem Verein stehen.“
Was jetzt mit der Mitgliederversammlung passiert? Die Vorbereitungen für den 18. März laufen weiter, die Gremien lassen juristisch prüfen, wie sie gegen das Ansinnen des Präsidenten vorgehen können. Wie es in der Datenaffäre weitergeht? Am 1. Februar soll der Abschlussbericht von Esecon vorliegen, auch die Untersuchungen des Landesdatenschutzbeauftragten stehen vor dem Abschluss. Und was aus Claus Vogt wird? Unklar. Fest steht aber: Sollte er seinen einsamen Kampf verlieren, wird er sich zumindest nicht vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben.