Zieht ihr Publikum immer in Bann: Herta Müller Foto: dpa/Soeren Stache

Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat im Literaturhaus gezeigt, wie man sich mit Hilfe der Sprache retten kann.

Stuttgart - Herta Müllerhat schon oft in Stuttgart ihre Bücher vorgestellt: angefangen mit den fast konspirativen Lesungen in den Katakomben der legendären Buchhandlung von Wendelin Niedlich in den neunziger Jahren bis zu den Auftritten der 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autorin im Literaturhaus – doch jedes Mal zieht sie das Publikum erneut in ihren Bann. So auch jetzt wieder, wo der diesmal mit auf dem Podium des Literaturhauses sitzende Lyriker und Übersetzer Ernest Wichner nur wenige Stichworte benötigte, um sie zum Sprechen zu bringen.

Die beiden Bücher, die Müllermitgebracht hatte, würde man auf den ersten Blick unterschiedlichen Genres zuordnen: das 2014 im Hanser Verlag erschienene „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ der Gattung der autobiografischen Prosa, den 2019 im selben Verlag publizierten Band „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ der experimentellen Lyrik. Doch im Verlauf des Abends konnte man sprachliche wie inhaltliche Querverbindungen zwischen diesen Büchern erkennen. „Einsamkeit“ etwa war ein Wort, das in beiden vorkam, ebenso „Dorf“, „Bahnhof“ oder „Koffer“. Müller sprach von „Wörtern, denen gegenüber ich mich verpflichtet fühle“, weil sie eine ganze Welt aufschließen.

Märchen vom Aschenputtel

In ihrer Tischrede beim Bankett der Nobelpreisträger hatte Müller über ihre bizarre Karriere vom Kühe hüten in ihrem Heimatdorf im rumänischen Banat in den 1950er Jahren bis zur festlichen Zeremonie 2009 im Stockholmer Stadthaus gestaunt. Das hörte sich an wie das Märchen vom Aschenputtel, das zur Prinzessin aufsteigt; aber anders als die Prinzessin hat Herta Müller nicht vergessen, wo sie herkommt. Im Gegensatz zum Städter, der auf dem Land die Idylle sucht, hat das dort aufgewachsene Kind die Landschaft nicht als etwas poetisch Erhabenes empfunden, sondern als Bedrängendes, einen Ort der Einsamkeit, der Verlorenheit und grundlosen Trauer. Es ist der vorbeifahrende Zug, der hier die Ahnung einer anderen, schöneren und eleganteren Welt weckt, dem das Kind mit seiner Schürze nachwinkt, das in „seiner Misere, seinem dreckigen Alleinsein“ zurückbleibt.

Als sie dann später in der Stadt aufs Gymnasium und auf die Universität geht (Ernest Wichner wird in Temeswar ihr Mitschüler sein), muss Herta Müller erkennen, dass es dort noch schlimmer als auf dem Dorf ist; der kommunistische Staat mit seiner kollektivistischen Ideologie „hat uns das Leben gestohlen“. Der Zorn darüber ist bis heute nicht verraucht.

Rätselbilder aus Zufall

Woher kommt dann das „Heimweh“, das ihr neues Buch im Titel führt, wollte Ernest Wichner wissen. Das lasse sich rational nicht erklärte, meinte Herta Müller, es habe vielleicht mit den damals geschlossenen Freundschaften zu tun, oder mit der rumänischen Sprache, weil diese Zweisprachigkeit einen doppelten Blick auf die Welt ermöglicht habe. Als sie sich nach ihrer Emigration 1987 nach Deutschland bei ihren Freunden melden wollte, kaufte sie eines Tages weiße Karteikarten und Klebstoff und fing an, mit der Schere aus Zeitungen Bilder und Wörter auszuschneiden und neu zusammenzukleben. So entstanden ihre Collagen, ihre ganz eigene Form einer experimentellen Lyrik: Gedichte, hergestellt aus vorgefundenem Material, das neu kombiniert wird, Rätselbilder aus Zufall, Notwendigkeit und Freiheit.