Die Regale in den Supermärkten von Lwiw werden immer leerer. Foto: Red/Feyder

Noch vor wenigen Tagen, als unser Autor Franz Feyder im ukrainischen Lwiw ankam, waren Geschäfte und Lokale noch geöffnet. Nun ist er aus Kiew dorthin zurückgekehrt – in eine erstarrte Stadt, die ihrer Zukunft harrt.

Lwiw - Nackt sind die Schaufensterpuppen im Jeansladen unweit der Sobor-Kathedrale im Stadtzentrum von Lwiw (deutsch: Lemberg). Die Regale sind leer. Nebenan im „Lunchwell“ wird nicht mehr gekocht, und auch im „Amadeus“ gegenüber werden keine Gäste mehr bedient. Die Lackklamotten und Peitschen im Sexshop „Toppers“ kauft niemand mehr. Die Menschen in Lwiw haben anderes zu tun: Frauen und Männer verdrahten Bleche vor den Schaufenstern, heben Schützengräben aus, bauen Straßensperren und stapeln Wälle aus Sandsäcken. „Wir bereiten uns auf die Russen vor“, sagt Wadym – und hastet weiter. Kleine Zettel klemmt er unter die Scheibenwischer parkender Autos auf der Straße, die zum Polizeipräsidium führt: Bis 15 Uhr muss die frei für Militärfahrzeuge sein. Wer dann noch hier parkt, wird abgeschleppt.

 

Lwiw hat in wenigen Tagen seinen Charakter verändert

Neun Tage nach Beginn der aktuellen russischen Angriffe auf die Ukraine hat das frühere Lemberg seinen Charakter verändert. Polizisten, Soldaten und Milizionäre durchstreifen die Stadt mit schussbereiten Sturmgewehren. Die meisten haben ihre Gesichter vermummt, was sich mit Temperaturen um den Gefrierpunkt nur schwer erklären lässt: Jeder, der ein gelbes Klebeband um seinen rechten Oberarm gewickelt hat, scheint jede Frau, jeden Mann auf der Straße anhalten und kontrollieren zu können.

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Umringt von sieben maskierten Soldaten hat ein junger Mann vor der Oper seine Arme weit zur Seite gestreckt. Der Inhalt seines Rucksacks liegt zu seinen Füßen und wird penibel durchsucht: Jeder Pullover, jede Hose, jede Unterhose wird ausgebreitet, begutachtet und schließlich achtlos zu Boden geworfen. „Das ist Willkür, wie in früheren Sowjetzeiten“, schimpft eine ältere Frau, die unter diesen Umständen auf keinen Fall ihren Namen in einer Zeitung lesen will. „Ich dachte, diese Zeiten sind vorbei, in denen der Staat davon ausgeht, dass seine Bürger ihm nur Böses wollen.“ Misstrauen macht sich in der Lwiw und unter seinen 730 000 Einwohnern breit.

400 Euro kostet die Flucht auf Schleichwegen

Dass am Freitagvormittag gleich drei Mal kurz hintereinander Sirenen heulen, mit blechernen Lautsprecherdurchsagen die Menschen aufgefordert werden, Schutzräume, Keller und Tiefgaragen aufzusuchen, trägt zur Unruhe bei. Wie auch die Nachrichten, die aus dem ganzen Land ihren Weg nach Lwiw finden.

Eine Saat, in der die Geschäfte einiger aufgeht, die mit diesem Krieg Gewinne machen wollen: Ukrainer bieten flüchtenden Landsleuten an, sie für umgerechnet 400 Euro auf Schleichwegen an die 70 Kilometer entfernte Grenze zu Polen zu fahren. Vorbei an der schier unendlichen Schlange jener, die so viel Geld nicht aufbringen können und wollen. Zwei, drei Tage, so heißt es, dauere es inzwischen, um an der Grenze abgefertigt zu werden. Die ukrainischen Grenzpolizisten sind heillos überfordert, Männer zwischen 18 und 60 von Frauen, Kindern und Alten zu trennen und sie zum Wehrdienst zurück nach Lwiw zu schicken.

Viertel in Charkiw ohne Wasser, Strom und Gas

1,25 Millionen Ukrainer sind laut der UN-Organisation für Migration (IOM) bereits auf der Flucht. Alleine 672 000 Menschen seien nach Polen geflohen, 194 000 nach Moldau und 133 000 nach Ungarn. In ihrer Heimat bleiben wollen erst einmal Evgen Mykhailov (32) und seine Frau Jane Mykhailova. Am Donnerstagabend kamen sie in Lwiw an. Anderthalb Tage, nachdem sie Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, verließen. „Unser Stadtviertel wurde von den Russen unentwegt beschossen. Die Universität wurde getroffen, das Haus meiner Großmutter zerstört“, erzählt die 29-Jährige. Zehn Züge verließen die Stadt jeden Tag. „Viel zu wenig für all‘ die Menschen, die nur noch raus wollen aus den ununterbrochenen Explosionen und Schüssen.“

Viele Viertel von Charkiw seien ohne Strom, Wasser und Gas. Die medizinische Versorgung sei zusammengebrochen. Tote lägen in Ruinen und auf der Straße. „Seit vergangener Woche vergeht kaum eine Stunde, in der ich mich nicht frage: Warum tut Putin uns das an? Was haben wir ihm getan, dass er uns so abgrundtief hasst“, fragt Jane leise.

Präsident Selenskyj fordert dazu auf, keine Bilder zu verbreiten

90 Tage will das Paar mit seinen Eltern und Großeltern bei Bekannten in Lwiw ausharren. Hier abwarten, ob sie dann gemeinsam über Polen nach Deutschland fliehen können, um das Ende des Krieges abzuwarten. „Wir werden uns auf keinen Fall voneinander trennen lassen“, sagt Evgen. Der generelle Einberufungsbefehl, den Präsident Wolodymyr Selenskyj für alle Männer im Land erlassen hat, läuft dann erst einmal aus.

Nicht aber sein Aufruf, mit dem er sich am Mittwoch an die Menschen im Land wandte. Die mögen darauf verzichten, „Fotos und Videos von allem zu machen, was der Verteidigung unseres Vaterlandes dient“. So solle den russischen Invasoren ihr Überfall erschwert werden, ihnen Informationen vorenthalten werden. Wohl auch deshalb verbergen sich die Verteidiger Lwiws zunehmend samt ihrer Transporter auch in den kleinen Tunneln, die in der ganzen Stadt zu Hinterhäusern und -höfen führen. Stapeln Trinkwasser und Brennholz neben die Fässer, aus denen Feuer ihnen Wärme spenden.

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Szenen, die vor einer Woche in Lwiw noch undenkbar schienen. Als viele Restaurants und Geschäfte noch geöffnet hatten, die Regale in den Supermärkten prall gefüllt waren und die Menschen spazierten und nicht hasteten. „Wir liefern nur noch die Hälfte der Milch aus, die wir gewöhnlich in Cafés bringen“, sorgt sich Vitaly. Zwei Ausfahrer seien bereits entlassen worden. Von seinen 320 Euro Monatsverdienst müssten jetzt nicht nur seine Frau und die beiden Kinder leben, sondern auch die Schwiegereltern, die aus Kiew geflohen seien. Zu sechst lebten sie jetzt auf 72 Quadratmetern.

„Das Warten macht mich verrückt“, sagt der Milchkutscher. „Es ist klar, dass die Russen angreifen werden, um unsere Hauptstadt einzukesseln. Die Frage ist doch nur noch, wann sie das tun.“ Darauf warten in Lwiw viele. Denn dann, sind sie fest überzeugt, dauere es nicht mehr lange, bis russische Panzer auch auf sie zurollen.