Die gedruckten 95 Thesen haben die alte Welt aus den Angeln gehoben. Foto: dpa

1517 hat Martin Luther mit seinen 95 Thesen gegen den Ablasshandel die mittelalterliche Welt erschüttert. Die Schau „95 Schätze – 95 Menschen“ in Wittenberg zeichnet das Beben durch die Jahrhunderte nach.

Wittenberg - Hat er nun oder hat er nicht? Die Wissenschaft streitet sich, ob Luther seine 95 Thesen wirklich an der Pforte der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen oder sie lediglich per Post an seine Vorgesetzten verschickt hat. Am zentralen Ursprungsort der Reformation, in Wittenberg, votiert man für ein entschiedenes Sowohl-als-auch: Die Kuratoren der nationalen Sonderausstellung „95 Schätze – 95 Menschen“ im Augusteum, dem Vordergebäude des Lutherhauses, können neben einem großformatigen Thesendruck aus dem Jahr 1517, der ihrer Meinung nach zum Aushang an der Schlosskirchenpforte bestimmt war, auch eine handschriftliche Notiz des Luther-Weggefährten Georg Rörer präsentieren, in der dieser auf dem Schlussblatt von Luthers Handexemplar des Neuen Testaments vermerkt: „Im Jahr 1517 am Vorabend von Allerheiligen sind in Wittenberg an die Türen der Kirchen Martin Luthers Thesen über den Ablass öffentlich angeheftet worden.“

Besonders stolz ist Stefan Rhein, der Chef der Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt, zudem auf einen sonst nie ausgestellten, aus dem Riksarkivet Stockholm entliehenen Brief des Theologen an den Erzbischof Albrecht von Brandenburg – nach Rheins Ansicht die „Geburtsurkunde“ des Reformators, die dieser erstmals mit „Luther“ unterzeichnet, seinen Geburtsnamen Luder mit dem th aus seinem in der Korrespondenz mit humanistischen Gelehrten gebrauchten Kunstnamen Eleutheros, der Befreite, kreuzend. In seiner feinen, regelmäßigen Handschrift fordert Luther da den höchsten geistlichen Würdenträger des Reiches frech auf, den Ablasshandel zu unterbinden, damit die „armen Seelen“ nicht glaubten, Gottes Gnade sei käuflich. Seinem Schreiben fügt Luther ein Exemplar seiner 95 Thesen bei.

Wider die käufliche Gnade

Dazu muss man wissen, dass Albrecht ein Ablass-Kapitalist reinsten Wassers war. Ein Gemälde von Simon Franck in der Ausstellung zeigt den Kirchenmann als heiligen Martin (1524), wie er in edelsteinstrotzendem Ornat mit spitzen Fingern und blasierter Miene ein paar Münzen in die Schale eines wie ein Wurm zu seinen Füßen sich krümmenden Bettlers fallen lässt. Die Reaktion aus Rom auf die Kritik des Augustinermönchs ist bekannt: Auch einen Originaldruck der päpstlichen Bannandrohungsbulle, mit der die Amtskirche den Ketzer zur Räson bringen wollte, kann man in Wittenberg bewundern.

Letztlich kommt es gar nicht so sehr darauf an, auf welchem Weg Luthers aufrührerische Thesen an die Öffentlichkeit gelangten – unstrittig ist, dass sie sich in rasender Geschwindigkeit verbreiteten und den mittelalterlichen Kosmos zur Explosion brachten, wie es der Luther-Biograf Willi Winkler ausgedrückt hat. Am Hauptschauplatz seines Lebens und Wirkens begleitet die Jubiläumsschau in ihrem ersten Teil – den „95 Schätzen“ – den jungen Luther auf seinem Weg zur Reformation. Bravourös ist es den Kuratoren dabei gelungen, das „Text-Ereignis“ Reformation (Stefan Rhein) mit Objekten und Bildern anzureichern, die die damalige Glaubens- und Alltagswelt zur Anschauung bringen. Handschriftliche Dokumente und Erstdrucke von Luthers wichtigsten Schriften – „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ und „An den christlichen Adel deutscher Nation“ – gibt es ebenso zu sehen wie herausragende Zeugnisse aus der Cranach-Werkstatt: Porträts von Luthers Schutzpatron, Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, und dessen Bruder Johann dem Beständigen, ein eindrucksvolles Herrscherbildnis Herzog Georgs des Bärtigen von Sachsen, eines anfänglichen Sympathisanten und später erbitterten Gegners der Reformation, Luthers Ehefrau Katharina von Bora und daneben, aus der Werkstatt des Nürnberger Malers Barthel Beham, den jungen Kaiser Karl V., den ein Orden vom Goldenen Vlies als bedingungslosen Gefolgsmann der römisch-katholischen Kirche ausweist. So ähnlich muss der Habsburger ausgesehen haben, als er beim Reichstag in Worms dem abtrünnigen Augustinermönchlein aus Wittenberg gegenübersaß. Von Luthers persönlicher Habe hat sich kaum etwas erhalten. Mit einem hölzernen Schreibkästchen und einem grün glasierten Keramik-Schreibset mit Tintenfass und Federschale aus seinem Besitz können die „95 Schätze“ aber dennoch aufwarten.

Deutscher Grobian

Um existenzielle Fragen geht es im zweiten Teil der Schau: Glaube, Nächstenliebe, Gemeinschaft, Gewissen, Gnade. Wie die beiden anderen nationalen Sonderausstellungen zum Reformationsjubiläum sind die „95 Menschen“ eine wirkungsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Luther, verlagern die Perspektive aber von der Ausbreitung des „Protestantismus in der Welt“ (Berlin) und der Verklärung des Kirchenrebellen zum deutschen Nationalhelden (Wartburg) auf die höchst spannende individuelle Ebene. Quer durch die Jahrhunderte vereinigen sich da die Stimmen von Kritikern und Anhängern zu einem „Resonanzraum der reformatorischen Einsicht Luthers über den Menschen“, wie es im Katalogvorwort heißt. Zum Stammpersonal der Follower – Albrecht Dürer, Johann Sebastian Bach, Dietrich Bonhoeffer – gesellen sich hier Geistesgrößen wie der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, der sich in seinen „Lettere luterane“ (1976) als Lutheraner bekannte: ein unerschrocken für Wahrheit und Freiheit eintretender Kämpfer. Thomas Mann zählte Luther zwar zu den drei „Monumentalgestalten“ der deutschen Geschichte, neben Goethe und Bismarck, hätte aber lieber mit den Medici-Päpsten diniert als mit diesem deutschen Grobian.

Man begegnet dem Pfarrer Oskar Brüsewitz und seinem als Fanal gegen die staatliche Unterdrückung der DDR am Turm seiner Dorfkirche in Rippicha angebrachten Neonkreuz. 1976 verbrannte er sich aus Protest gegen das SED-Regime öffentlich. Man begegnet auch zwei so gegensätzlichen Charakteren wie der gläubigen Protestantin und NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl und dem Nazi Julius Streicher, der sich bei den Nürnberger Prozessen zu seiner Verteidigung auf Luthers antisemitische Schriften berief: „Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank.“

Der des Landesverrats angeklagte Whistleblower Edward Snowden schließlich, der die Welt über die Totalüberwachung durch die Geheimdienste aufklärte, wird mit dem Satz zitiert: „Staatsbürger mit Gewissen werden Rechtsbrüche nicht einfach ignorieren, nur weil sie dafür vernichtet werden: Das Gewissen verbietet es.“ Natürlich denkt man dabei unwillkürlich an Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Er wusste, dass ihm dafür der Scheiterhaufen drohte. Spätestens an dieser Stelle erweist sich die Annahme, dass Luther uns heute nichts mehr zu sagen hätte, als Irrtum.