Die Raumfahrtbranche in Baden-Württemberg wird unterschätzt. Foto: dpa/Felix Kästle

Bei wichtigen Wirtschaftszweigen im Südwesten denken die meisten wohl sofort an Autos. Dann kommt Maschinenbau. Vielleicht auch ein bisschen Wein. Doch eine andere Branche ist deutschlandweit führend und international gefragt. Sie will hoch hinaus.

Pforzheim/Schönaich - Ein bisschen Baden-Württemberg schwebt mehr als 500 Kilometer über der Erde: Membranbälge der Firma Witzenmann aus Pforzheim sind im Weltraumteleskop Hubble eingebaut und dienen dort als flexible Dichtungselemente. Das Unternehmen, das unter anderem Schläuche, Kompensatoren und Fahrzeugteile insbesondere für die Autoindustrie herstellt, will strategisch im Bereich Aerospace investieren. „Gerade Raumfahrt ist ein langfristiges Geschäft“, sagt Michael Weber, Vice President Aerospace. „Wenn es einmal losgeht, haben Sie sehr konkrete Prognosen für fünf bis zehn Jahre.“ Daher mache auch Corona der Branche nicht viel aus.

Die Branche - sie ist eher eine unbekannte, bisweilen unterschätzte. Dabei hat quasi jeder durch Navigation, Telekommunikation oder Wettervorhersagen im Grunde täglich mit Errungenschaften aus der Raumfahrt zu tun. Der Südwesten spielt dabei eine wichtige Rolle.

40 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Südwesten

Gut 40 Prozent aller Beschäftigten der deutschen Raumfahrtindustrie arbeiten hier. Bis zu 60 Prozent der in Deutschland ausgebildeten Raumfahrtingenieure kämen von einer Südwest-Hochschule, sagt Rolf-Jürgen Ahlers, Vorstandschef des Forums Luft- und Raumfahrt Baden-Württemberg. Rund 10 000 Mitarbeitern in der Raumfahrt stünden 6500 bis 7000 in der Luftfahrt gegenüber. Das Wirtschaftsministerium geht von etwas niedrigeren Zahlen aus und beziffert den Umsatz der gesamten Luft- und Raumfahrtbranche auf mehr als 4,8 Milliarden Euro.

„Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist aufgrund ihrer Ausstrahlung auf andere Wirtschaftszweige ein wichtiger Technologieschrittmacher für Baden-Württemberg“, sagt Ministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU). Neben der Forschungsinfrastruktur zeichne sich die Branche vor allem durch eine hoch spezialisierte Ausrüsterindustrie und ein enges Netzwerk leistungsfähiger Hersteller und Zulieferer aus.

Größte Luft- und Raumfahrtfakultät Europas in Stuttgart

Wie vielfältig der Südwesten aufgestellt ist, zeigt ein Blick in die Details: Die Fakultät für Luft- und Raumfahrttechnik und Geodäsie der Universität Stuttgart gilt als größte Luft- und Raumfahrtfakultät in Europa und feierte 2010 das 100-jährige Bestehen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat hier Institute, ebenso die Fraunhofer-Gesellschaft. An deren Institut für Chemische Technologie in Pfinztal (Kreis Karlsruhe) forscht etwa Stefan Sims auf dem Gebiet der Festtreibstoffe für die Raumfahrt. Dabei gehe es um neue Zusammensetzungen, die eine höhere Leistung, Steuerbarkeit sowie Umweltverträglichkeit versprechen, erklärt Sims.

Auf industrieller Seite sind Firmen aus Baden-Württemberg vor allem für den Bau von Satelliten, ihren Triebwerken, Fernerkundungs- und lebenserhaltenden Systemen sowie bei der Satellitenkommunikation international bekannt. Dazu gehören nicht nur Produktionsstätten großer Namen wie Thales oder Airbus Defence & Space.

„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegen die USA ins Hintertreffen geraten“

Faulhaber mit Sitz in Schönaich (Kreis Böblingen) etwa stellt Mini- und Mikroantriebe her. Sie seien robust und hielten dem Druck beim Start einer Rakete stand, erklärt eine Sprecherin. Die Firma arbeitet unter anderem mit dem US-Hersteller SpaceX zusammen, ihre Technik steckt in Raumfahrzeugen für Mond, Mars und Kometen sowie in einem Seismometer, das für die Nasa Beben auf dem Roten Planeten erfassen soll. Da die Unternehmen sehr spezielle Produkte entwickeln, gibt es viele Anbieter hierzulande nur ein- oder zweimal - sicheres Terrain.

Doch gerade mit Blick auf die weltweite Branche droht Konkurrenz. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegen die USA ins Hintertreffen geraten“, sagt Witzenmann-Experte Weber. SpaceX etwa biete kostengünstige Produktions- und Entwicklungsmethoden, während die Europäische Weltraumorganisation ESA teils an 30 Jahre alten Vorgaben beispielsweise beim Design festhalte, das inzwischen günstiger herzustellen wäre - bei gleicher Sicherheit. „Wir müssen in der Industrie effektiver werden“, fordert Weber. Dabei spiele der Lohn in Deutschland oder Osteuropa keine entscheidende Rolle. „Es geht darum, ob Teile dreimal geröntgt werden müssen, wenn zweimal auch reicht.“

Aerospace weiter ausbauen

Dass der Standort Deutschland in Gefahr geraten könnte, glaubt Weber nicht. „Raumfahrt ist deutlich stärker politisch motiviert als die Luftfahrt.“ So brauche Europa eigene Trägerraketen, um Satelliten ins All schicken zu können, ohne auf China, Russland oder die USA angewiesen zu sein. „Raumfahrt hat nicht nur kommerzielle Aspekte, sondern immer auch eine strategische Komponente.“

Daher will Witzenmann den Bereich Aerospace weiter ausbauen und das in der Firma vorhandene Wissen über Rohrleitungssysteme verstärkt auf Luftfahrtanwendungen übertragen. „Das wird in der Luft- und Raumfahrt deutlich länger nachgefragt werden als im Automotive-Bereich“, gibt sich Weber überzeugt.

Doch auch wenn es der Branche also ziemlich gut geht, appelliert Ahlers vom Forum Luft- und Raumfahrt an die Politik: Die Bedeutung des Standorts Baden-Württemberg müsse auch öffentlich sichtbarer werden. Damit ziehe man andere Leistungsbringer an. „Jeder Antrieb, der in Europa an den Start geht, wird in Lampoldshausen getestet“, macht er deutlich. „Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.“