Ludwigsburgs Intendant Thomas Wördehoff Foto: FACTUM-WEISE

Von diesem Freitag an versuchen sich die Ludwigsburger Schlossfestspiele wieder mit ungewöhnlichen Programmen an der Rettung des Staunens.

Ludwigsburg -

Herr Wördehoff, was machen Sie eigentlich zwischen August und April? Winterschlaf?
(lacht) Ja, das hatte ich tatsächlich mal gehofft, aber es ist doch erstaunlich, wie viel Arbeit ein zweieinhalbmonatiges Festival verursacht. Wir müssen selbst unseren Jahresprospekt schreiben, müssen mit Künstlern verhandeln, organisieren, und da wir sehr viele Eigenproduktionen haben, gilt es, Vieles zu erfinden und zu vermitteln. Das alles kostet sehr viel Energie und Zeit.
Welche Gedanken und Themenstränge umkreisen die Ludwigsburger Schlossfestspiele in diesem Jahr?
Wir haben immer eine Art roten Faden, der sich durch das Programm zieht. In diesem Jahr ist das große Thema „Passagen – Erzählungen“. Es geht um die Verbindung verschiedener geografischer Punkte, speziell auch verschiedener musikalischer Stile; um Wegstrecken, die man zurücklegt und dabei ja immer etwas erlebt. Bei diesem Thema hat uns in diesem Jahr die aktuelle politische Situation natürlich zugearbeitet: Die Menschen, die heute auf der Flucht sind, haben alle Geschichten von ihrer Heimat im Gepäck, und diese Geschichten sind so groß, dass wir manchmal sogar Angst vor ihnen haben. Das ist die Idee im Eröffnungskonzert, und das zieht sich weiter durch das Festival bis zu Mozart „Idomeneo“ und zur Homers „Äneis“, die wir erzählen lassen, bis hin zu den Tondichtungen von Richard Strauss und zu Jordi Savall mit seinem „Krieg und Frieden“-Projekt, in dem es um das fluchtartige Hin- und Herspringen zwischen Kirchenmusik, Volksmusik und Kriegsliedern im Dreißigjährigen Krieg geht – und um die Wunden, die diese Zeit in Europa hinterlassen hat.
Im Eröffnungskonzert wird der Leiter des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff, eine Rede halten, dann gibt es russische Musik, und einleitend spielt ein Oud-Virtuose. Wie kommt diese Kombination zustande?
Der Oud-Spieler gibt einen authentischen Vorgriff auf die „Scheherazade“ von Rimsky-Korsakow. Er imaginiert, was an dem mythischen Hof in Persien für eine Musik erklungen sein könnte. Dann gibt es dieses Orchesterstück über die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, in dem der Komponist sich dem Märchen mit den damals zeitgenössischen Mitteln der Musik nähert, und mit dem dritten Klavierkonzert von Prokofjew erleben wir schließlich ein Stück russische Musik, das in Chicago uraufgeführt wurde und nach Gershwin klingt. Zwischen diesen Polen reisen dien Zuschauer hin und her, und Ulrich Raulff, der in Deutschland ja so etwas wie der Herr der Erzählungen ist, rundet den Abend ab.
Das passt ja gut zu Ihrer Lust an der Konfrontation von unterschiedlichen Stilen, Gattungen und Künstlern. Worin liegt für Sie der Reiz der Reibung – etwa wenn Blues- und Folksongs von Rebekka Bakken auf Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Weberns Bagatellen treffen?
Der Blues wurde von Menschen erfunden, die ihre Sprachlosigkeit in eine musikalische Form gegossen haben. Das sind sehr lakonische Texte von großer Kraft, und diese utopische Kraft findet man auch in dem Gedicht Richard Dehmels, das Schönbergs Streichsextett zugrunde liegt. Wenn man das kontrastiert mit den kurzen sechs Bagatellen von Webern, dann entsteht plötzlich ein irritierender Zusammenhang von Zerrissenheit. Die Konzertformen, die wir gewohnt sind, haben eine sehr monochrome Struktur, in die wir uns gerne einbetten – und manchmal dann eben auch mal wegnicken. Mich haben die Kurzformen interessiert, die geschichtlich ja zur selben Zeit entstanden: dieses Zerfetzen von Musik bei Webern und die im Vergleich zur hochkomplexen zweiten Wiener Schule archaischeren, atavistischeren Bluessongs.
Trauen Sie der klassischen Musik nicht zu, alleine für sich stark zu sein und zu wirken?
Ich traue ihr das sehr wohl zu, das erleben wir ja in 99 Prozent aller Konzerte. Aber nehmen wir mal ein Beispiel aus der Architektur: 1989 wurde die Glaspyramide des Chinesen Ieoh Ming Pei gleichsam in den Louvre hineingerammt, und seither wird das Museum in einen zeitgenössischen Kontext gerissen. Bisweilen können auch in der Musik derartige Kontraste und Konfrontationen unsere Fantasie mit neuen Impulsen versehen und so dafür sorgen, Musik neu zu sehen und zu hören.
Die Meinung, dass man mit derartigen Programmideen der Klassik ein neues Publikum zuführen kann, teilen Sie mit anderen Festivals, mit denen Sie auch koproduzieren, wie etwa dem Podium Festival Esslingen oder dem Heidelberger Frühling. Worin unterscheiden Sie sich von denen?
Ich meine mit dem neuen Publikum nicht ausschließlich ein den Jahren nach jüngeres Publikum. Auch etwas Ältere stehen oft genauso hilflos wie junge Leute vor gewissen komplexen Werken der Klassik. Ich will den Kreis der Menschen erweitern, die dieser wundervollen Musik begegnen, und ihnen Mut machen, sie unter ihren eigenen, subjektiven Voraussetzungen zu begreifen.
Woher kommt Ihr Hang zu Österreich und zu österreichischen Künstlern?
Die Musiker aus diesem Land haben auf der einen Seite eine ganz große Neugier und auf der anderen eine besonders starke Verbindung zu ihrer eigenen volksmusikalischen Tradition. Die Musik von Schubert, Mahler und Haydn ist auffällig mit volksmusikalischen Parametern durchsetzt, und zeitgenössische österreichische Musiker führen das fort. Wenn man das weiß, wird Etliches in der Musik erklärbar. Edward Snowden hat mal sinngemäß gesagt, Musik sei das Medium, das unterschiedliche Momente und Themen des Lebens in ein kohärentes Narrativ verbinden könnte. Dem stimme ich vollkommen zu. Wir müssen uns um Konzertprogramme bemühen, die der Musik eine Erzählung gestatten – so wie wir das im Eröffnungskonzert machen, wo wir unter anderem fragen, wie formuliert sich Musik, wo kommt sie her, was verbindet sie mit anderer Musik? Am Ende eines solchen Konzerts könnte eine spannende Geschichte entstanden sein.
Ist das mehr als ein Plädoyer für dramaturgisch durchgearbeitete Konzertprogramme?
Ja, unbedingt. Programme sollen nicht nur innerhalb ihrer Genregrenzen und innerhalb historischer Zusammenhänge funktionieren.
Wie viel bringt Pietari Inkinenin die Programmgestaltung ein?
Sehr viel. Er hat zum Beispiel die Idee gehabt, Tondichtungen von Strauss mit Magnus Lindbergs Klarinettenkonzert zu kombinieren, weil er erkannt hat, dass die Erzählung, die bei Strauss auf literarischen Quellen fußt, durch den Klarinettisten Kari Kriikku weitergetragen wird, der ein sehr ungewöhnlicher Performer auf seinem Instrument ist und hier die Position des Erzählenden einnimmt. Diese Gegenüberstellung zweier Erzählformen ist sehr spannend. Und Kriikku macht noch einmal deutlich, was die an Soloinstrumenten so reichen Partituren von Strauss an erzählerischem Material enthalten.
Sie hätten gerne länger in Ludwigsburg Programme gestaltet, als die Politiker sie am Ende lassen wollten. Sind Sie jetzt gerade enttäuscht, wütend oder trotzig?
Ich bin sehr zufrieden. Mir ist bei der Planung der nächsten Jahre bewusst geworden, dass ich 2019 zehn Spielzeiten hier gestaltet haben werde. Das reicht dann wirklich – für mich und für Ludwigsburg. Dann muss ein Neubeginn stattfinden. So lange Perioden, wie sie Wolfgang Gönnenwein als Intendant hier erlebte, sind beim heutigen Druck und bei der heutigen Festival-Konkurrenz heute nicht mehr denkbar.
Was wollen Sie bis 2019 noch weiter- oder gar zu Ende denken?
Die kontrastierende Konzertdramaturgie, die ich in den letzten Jahren hier verfolgt habe, möchte ich gerne weiter zuspitzen. Außerdem will ich die Koproduktionen – in diesem Jahr sind es zehn aus der Region – überregional ausweiten. Ich würde gerne unser Orchester auf Reise schicken, denn ich glaube, Pietari Inkinen hat diesen Klangkörper zu einem echten Juwel gemacht. Und im Schlosstheater noch einige schöne Produktionen entstehen. Also: Wir haben noch den Koffer voll mit Ideen und Projekten.
Wenn jemand von außen Sie fragte: Sagen Sie mir ganz kurz, warum ich zu den Ludwigsburger Schlossfestspielen kommen soll. Was würden Sie ihm antworten?
In Ludwigsburg können Sie Veranstaltungen erleben, die es in dieser Form sonst nirgends gibt. Wir machen das, was andere nicht machen.
Das Gespräch führte Susanne Benda