Das Marstall-Center dominiert das Ludwigsburger Stadtbild. Foto:  

Vor 50 Jahren sind die ersten Bewohner im Ludwigsburger Marstall-Center eingezogen. Ein Rundgang durch das riesige Gebäude, das als architektonischer Problemfall gilt.

Rolf Bantel ist an diesem Tag mal wieder in seiner Zweitwohnung. „Länger nicht da gewesen“, sagt er und grinst. Zweitwohnung, so nennt der 83-jährige Rentner seine mit einem Metalltor abgetrennten Stellplätze in der Tiefgarage des Marstall-Centers mitten in Ludwigsburg. Früher war Bantel häufig ganz unten. Denn hier steht sein Mercedes SL „Pagode“, Baujahr 1968. Bantel hat den Wagen über die Jahre und Jahrzehnte gehegt und gepflegt.

 
Rolf Bantel mit seinem Mercedes SL „Pagode“, Baujahr 1968 Foto: Martin Tschepe

Der Senior wohnt seit 1978 im Marstall und erzählt, dass er damals komplett begeistert gewesen sei von dem Gebäude, das vor ziemlich genau 50 Jahren fertiggestellt worden ist. Heute indes, sagt Bantel, gebe es viele Problemen: Die Zufahrt zur Garage sei oft nicht möglich, weil sich die Autos viele Hundert Meter weit stauten. Die komplette Technik im Haus sei marode, niemand kümmere sich. Und die Nachbarschaft sei früher auch eine angenehmere gewesen. Er und seine Frau Roswitha, sagt Bantel, hätten besser vor zehn Jahren ausziehen sollen.

Rückblende ins Jahr 1970. Während der Planungsphase und der Bauzeit des Marstall-Centers ist in vielen Zeitungsberichten die Rede von einer „Initialzündung“ für die Entwicklung der gesamten Stadt. Die Geschäfte in den unteren Ebenen des Centers würden zu einem Einkaufsmagneten, der die Kundschaft aus einem Umkreis von bestimmt 40 Kilometern anzieht. Bei einem Abend des Einzelhandels- und Gewerbevereins Ludwigsburg wird das projektierte Hochhaus als „echter Blickfang“ gelobt.

Drei Jahre nach dem Baubeschluss kippt die Stimmung

Im März 1971 sagt der Gemeinderat Ja zum Bebauungsplan für das 1,4 Hektar große Gelände, auf dem damals noch der alte Marstall steht. Das Neubauprojekt, so der damalige Oberbürgermeister Otfried Ulshöfer, habe allergrößte Bedeutung für Ludwigsburg. So ist die Stimmung damals – jedenfalls im Kommunalparlament und im Gewerbe: höher, größer, weiter. Man baut an der autogerechten Stadt, geplant ist sogar eine große Tiefgarage unter dem Marktplatz, die indes nie realisiert wird.

Als das Marstall-Center dann immer weiter in Richtung Himmel wächst, 1974 fertiggestellt ist und schließlich quasi für immer und unverrückbar mitten in der Barockstadt thront, kippt die Stimmung. Bald ist die Rede vom Ludwigsburger Schandfleck.

20 000 Kunden por Tag

Zurück in die Gegenwart – und rein in einen der sechs Aufzüge, die die Menschen von der Tiefgarage nach oben befördern. Erster Stopp in der mittleren von drei Laden-Etagen mit insgesamt 70 Geschäften. Im Marstall gibt es kaum etwas, was man nicht einkaufen könnte: Kleidung, Lebensmittel, Elektrogeräte, allerlei Krimskrams – Herr Bantel hat eben allerdings noch erklärt: Früher, als Karstadt noch der Ankermieter war, sei alles besser gewesen. Das legendäre Kaufhaus ist längst Geschichte. Viele Räume in den Ladenebenen standen nach dem Karstadt-Auszug lange leer.

An diesem Tag Ende 2024 schlendern viele Menschen in den Ladenebenen vorbei an den Schaufenstern, shoppen hier, essen und trinken dort. Das Management des Centers erklärt auf Anfrage unserer Zeitung, man zähle durchschnittlich etwa 20 000 Kunden pro Tag. Das sei sehr gut, „und mit dem Umsatz sind wir ebenfalls sehr zufrieden“.

Achter Stock. Stippvisite bei Ilse und Klaus Hönig, beide 83 Jahre alt. Das Ehepaar ist vor 50 Jahren in eine damals nagelneue Viereinhalb-Zimmer-Wohnung gezogen. Mit zwei kleinen Kindern. Sie sagt: „Uns hätte nichts Besseres passieren können.“ Das Geschäft, das das Ehepaar damals geführt hat, war zu Fuß in ein paar Minuten zu erreichen, „wir brauchten keinen Zweitwagen“. Die Tochter und der Sohn haben den Kindergarten im Marstall besucht. Alles war so einfach. Heute sind Ilse und Klaus Hönig nicht mehr gut zu Fuß. Einkaufen ist trotzdem kein Problem, sondern barrierefrei und in Hausschuhen möglich. Ihre Wohnung haben die beiden vor ein paar Jahren rollstuhlgerecht ausbauen lassen.

Altersgerechter Wohnsitz

In dem Hochhaus mitten in der Barockstadt gibt es für die Bewohner keine Kehrwoche und keinen Winterdienst. Okay, dafür seien die Nebenkosten höher, sagen die Hönigs. Für die längst überfälligen Sanierungsarbeiten der maroden Wasser- und Heizungsrohre hätten sie Rücklagen gebildet. „Wir haben nichts zu meckern“, sagt er – und schaut aus dem Fenster mit dem Blick auf den Ludwigsburger Marktplatz. Und sie sagt: „Wir bleiben so lange hier, wie es geht.“ Viele Bekannte hätten sie anno 1974 ob des Kaufs ihrer Wohnung für verrückt erklärt – und seien in schicke Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese gezogen. „Jetzt beneiden die uns.“

Wer sich ein paar Stunden lang im Marstall-Center umschaut, trifft viele Passanten – nachts auf der sogenannten Dachterrasse mit den Zugängen zu den Wohnungen und dem Spielplatz offenbar auch ein paar zwielichtige Gestalten. Jedenfalls erzählen manche Bewohner von Unrat, der aus den Fenstern geworfen werde, und von Drogenabhängigen, die sich in den Gängen aufhielten, von vielen Polizeieinsätzen, von Urin und Kot in Treppenaufgängen. Andere Bewohner berichten von Nachbarschaftshilfe und netten Bekanntschaften.

Mitten drin in der Ludwigsburger City

In den 199 Wohnungen im Marstall leben Eigentümer und Mieter. Manche seit Mitte der 1970er-Jahre, wie die Hönigs, andere erst seit Kurzem. Der Hausmeister Marcus Kraus erzählt, dass er und seine Kollegen mindestens einmal die Woche Anfragen bekämen von Menschen, die unbedingt in dem Hochhaus wohnen wollen. Das Gebäude ist ganz offenkundig beliebt – aber auch nach wie vor umstritten. „Ein Schandfleck“, sagen viele Ludwigsburger. Mag sein, erwidern die Bewohner mit einem Augenzwinkern: ein Schandfleck, den sie nicht sehen, wenn sie aus ihren Fenstern schauen.

Claudia Balack, 47, hat vor ein paar Jahren ihre Mietwohnung im zehnten Stock bezogen. Wohnen im Marstall? Das sei eigentlich nie ihr Plan gewesen. Sie wollte aber mitten drinnen leben in der Ludwigsburger City. Dann der erste Besuch mit einem Makler in der Wohnung mit Weitblick: „Wow! Ich hab’ mich sofort verliebt. Und als ich die Zusage bekam, bin ich vor Freude aufgesprungen.“ Hat das Gebäude für sie keine Nachteile? „Doch, klar.“ Die Wasserqualität sei wegen der alten Leitungen schlecht. Die oft blockierte Zufahrt zur Tiefgarage sei auch ein Ärgernis. Aber dafür, sagt sie und lacht, „habe ich die Feste direkt vor der Tür“ – und im Dezember den Weihnachtsmarkt.

Claudia Balack in ihrer Mietwohnung mit Aussicht Foto: Martin Tschepe

Was ist das Marstall-Center denn nun? Gehört das Gebäude nach fünf Jahrzehnten zu Ludwigsburg wie das Schloss? Oder gehört es abgerissen? Wer sich in der Stadt umhört, bekommt die unterschiedlichsten Einschätzungen zu hören. Laut Polizeipräsidium Ludwigsburg ist es „nicht ungewöhnlich“, dass die Beamten in einem Einkaufszentrum häufiger zu Einsätzen kommen, wegen Ladendiebstählen und Hausfriedensbruchs, wegen Unfällen und Unfallflucht im Parkhaus. „An einer Örtlichkeit, die anonym und zentral gelegen ist“, werde zudem „häufiger gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen“, sagt ein Sprecher der Polizei, der indes mit Gerüchten aufräumt, die unter einigen Bewohnern die Runde machen: Die Beamten hätten keinen Schlüssel für das Gebäude. Und es gebe auch keinerlei Hinweise auf ein illegales Bordell, das in der Vergangenheit mal im Marstall betrieben wurde.

Was sagen der OB und die Architektenkammer zu dem Gebäude?

Für den Ludwigsburger Oberbürgermeister Matthias Knecht ist das Marstall-Center „ein Bauwerk, das mittlerweile zu Ludwigsburg gehört“, ein Gebäude allerdings, das „man fast nicht schön finden kann“. Der Stadtchef spricht trotzdem von einem „modernen und gelungenen Konzept der Verknüpfung von Einzelhandel, Gastronomie, Dienstleistung und Wohnen“. Die millionenschwere Erneuerung der Ladenebenen nach dem Aus von Karstadt im Marstall vor zehn Jahren sei „ein Meisterstück der Verantwortlichen“ gewesen. Entstanden sei „ein guter Endpunkt einer facettenreichen, attraktiven Innenstadt“, meint Knecht.

Die Vorsitzende der Gruppe Ludwigsburg der Architektenkammer Baden-Württemberg, Nora Schöffel, Jahrgang 1988, sagt: „Der Ausblick aus den Wohnungen ist natürlich grandios, besser geht es in Ludwigsburg kaum.“ Sie lobt „die Anzahl an Wohnungen auf geringer Grundfläche“. Architektonisch und städtebaulich sei das Marstall-Center „jedoch absolut aus dem Maßstab gegriffen“. Sie wünschte sich, dass der Blick am Stadteingang auf das Schloss gerichtet wäre und nicht „zwangsläufig“ erst einmal auf das Marstall. „Die Wucht der Gebäudemasse ist erdrückend, hier wäre eine Auflockerung schön.“ Sie schlägt „ein Kunstprojekt“ vor oder eine „komplette Begrünung“.

Jürgen Frey ist ein Mann mit Überblick. Der pensionierte Lehrer wohnt fast ganz oben im Marstall-Center, im 16. von 17 Stockwerken, in etwa 50 Metern Höhe. Der Blick in alle Himmelsrichtung sei „der Hammer, Balsam für die Seele“, sagt er. Die zentrale Lage des Gebäudes nennt er „genial“. Frey schaut auf den Marktplatz, den er „mein Höfle“ nennt. Der „überzeugte Marstallianer“ sagt, er fühle sich moralisch verpflichtet, sein Leben in luftiger Höhe zumindest gelegentlich mit anderen zu teilen: Frey veranstaltet regelmäßig sogenannte Wohnzimmerkonzerte mit knapp 50 Sitzplätzen in seiner guten Stube. An diesen Abenden gibt es zum Sound einen schönen Blick auf das nächtliche Ludwigsburger Lichtermeer.

Autor Martin Tschepe ist im Dezember 1974 zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder in eine Wohnung im siebten Stock im Marstall-Center gezogen. Seit 2020 lebt und arbeitet Tschepe , 59, wieder gelegentlich in einer kleinen Wohnung im Marstall, die ihm als Zweitwohnsitz dient.