Kriminaltechniker sichern in der Ludwigsburger Oststadt nach einem tödlichen Messerangriff Spuren. In aller Regel werden solche Fälle in Deutschland aufgeklärt. Foto: KS-Images.de/K. Schmalz

Zwei Fälle in Stuttgart, einer in Asperg, einer in Ludwigsburg: Gefühlt häuft sich die Zahl an Tötungsdelikten in der Region. Was macht das mit dem Sicherheitsgefühl? Ein Gespräch mit dem Kriminologen Jörg Kinzig.

Am 17. Juli wird die Leiche eines Mädchens im Kreis Ludwigsburg entdeckt. Einen Tag später ist es traurige Gewissheit, dass es sich bei der Getöteten um die vermisste Tabitha E. aus Asperg handelt. Am 2. August wird ein 79-Jähriger in Ludwigsburg am helllichten Tag erstochen. Auch in der Landeshauptstadt Stuttgart starben unlängst drei Menschen gewaltsam.

 

Häuften sich die Tötungsdelikte in der Region zuletzt? Muss man nun Angst haben, selbst Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden? Der renommierte Kriminologe Jörg Kinzig kann ein Stück weit beruhigen. Wir haben mit ihm über die gefühlte und reale Bedrohung, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, und über die Gründe für Mord und die Güte von Polizeiarbeit in diesem Zusammenhang gesprochen.

Herr Kinzig, was ist für uns Menschen so faszinierend an einem Tötungsdelikt?

Um die Frage ganz einfach zu beantworten: Mord ist die schwerste Straftat, die ein Mensch begehen kann. Da geht es eben direkt an die Existenz, und es ist das einzige Delikt im Strafgesetzbuch, auf das zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe steht. Dass schwere und schwerste Verbrechen die Menschen faszinieren, manifestiert sich ja beispielsweise auch in Fernsehsendungen wie ‚Aktenzeichen xy ungelöst’ oder den ganzen Podcastformaten, die gerade Hochkonjunktur haben.

Wie ändert sich denn das Sicherheitsgefühl von Menschen, wenn Menschen in der näheren Umgebung gewaltsam umkommen?

Genaue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu habe ich nicht. Aber vielleicht kann ich das mit einer Anekdote beantworten. Ich habe Mitte der 90er-Jahre eine große Untersuchung zum Thema Sicherungsverwahrung gemacht. Und im Zuge dessen musste ich Akten von mehr als 500 Straftätern mit schwersten Sexual- und Gewaltstraftaten lesen. Und dabei habe auch ich gemerkt, dass die massive Beschäftigung mit diesen Fällen eine Verunsicherung oder sogar Ängste auslösen kann. Vermutlich ist das ähnlich, wenn jemand direkt praktisch vor der eigenen Haustüre umgebracht wird.

Der ein oder andere guckt sicher eher mal nach, ob er abgeschlossen hat, wenn er „Aktenzeichen xy“ geschaut hat...

Stimmt. Wir haben in Befragungen erstaunlicherweise aber auch ein umgekehrtes Phänomen. Die Leute geben zum Teil an, dass sie sich vor Straftaten fürchten oder Angst haben, Opfer von Verbrechen zu werden. Näher befragt, geben dieselben Personen aber gleichzeitig an, dass sie ihre eigene Wohngegend für ziemlich sicher halten. Zumindest wird die Sicherheit dort deutlich höher eingeschätzt als sonst wo.

Wie sicher lebt es sich in der Region und in Baden-Württemberg?

Viele Leute gehen von einer Zunahme von Straftaten aus. Gleicht man das mit der Polizeilichen Kriminalstatistik ab, dann sieht man, dass die Entwicklung tatsächlich eine andere ist.

Also ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch, dass man hier Opfer eines schweren Verbrechens wird?

Wir Kriminologen und Kriminologinnen unterscheiden zwischen Hellfeld- und Dunkelfelddaten, also dem, was bekannt wird und was nicht. Hellfelddaten stammen vor allem aus der Polizeistatistik. Und wenn man sich die anschaut, dann ist die Kriminalitätsentwicklung so erfreulich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wir haben weniger Straftaten, weniger schwere Straftaten und weniger Tötungsdelikte. Das ist ein stabiler Trend seit Jahren. Das bezieht sich sowohl auf die Bundesrepublik als auch auf Baden-Württemberg. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass die Entwicklung im Dunkelfeld eine andere ist.

Es gibt derzeit genügend Krisen, über die man sich Sorgen könnte. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Angst vor Kriminalität?

Ein Versicherungsunternehmen fragt periodisch wiederkehrend die Ängste der Deutschen ab. Da werden verschiedene Ängste sozusagen angeboten, eine davon ist Kriminalität. Die landet dabei regelmäßig auf einem der hinteren Plätze. Stellt man also die Furcht vor Kriminalität in den Kontext anderer Ängste, dann wird sie von diesen überlagert.

Wer fürchtet sich besonders vor Kriminellen?

Traditionell Frauen und alte Leute.

Zu Recht?

Nein. Gerade alte Leute werden eher nicht Opfer von Straftaten, weil sie beispielsweise abends eher daheimbleiben. Eigentlich müssten sich eher junge Männer fürchten. Denn der Klassiker einer Gewaltstraftat sind zwei Männer, die sich gegenseitig Verletzungen zufügen. Männer sind also im Vergleich mit anderen Gruppen sowohl öfter Täter als auch Opfer. Dennoch fürchten sie sich in einem vergleichsweise geringen Maße.

Woran liegt das?

Das ist eine Frage, die ist nach wie vor nicht geklärt. Wenn Sie in unsere Gefängnisse schauen, dann sitzen dort rund 95 Prozent Männer und nur fünf Prozent Frauen – trotz aller Emanzipation. Über die Ursachen wird seit Jahrzehnten diskutiert. Das kann mit Biologie zu tun haben, mit Sozialisation, mit Erziehung, mit Tatgelegenheiten – da kommen viele Faktoren ins Spiel.

Was sind häufige Gründe für einen Mord?

Klassisch wäre beispielsweise Eifersucht. Oder leider auch die Tötung einer Frau durch einen Mann, etwa am Ende einer Beziehung. Zu diesen Taten forschen wir auch unter dem Stichwort ‚Femizid’. Dann wird gemordet, um einen materiellen Vorteil zu erlangen. Das würde unter das Motiv Habgier fallen. Das sind wohl die wichtigsten Stränge. Und dann ist ein Klassiker ein Streit, der sich aufschaukelt.

Den klassischen Serienmörder, wie man ihn aus dem Fernsehen kennt, gibt es in Deutschland quasi nicht – oder?

Nach allem, was wir wissen, gibt es den in Deutschland nur äußerst selten. In letzter Zeit könnte man den Krankenpfleger Niels Högel nennen, der wegen einer Fülle von Tötungen an Patienten im Krankenhaus verurteilt wurde.

Im Fall der getöteten Tabitha aus Asperg gehen die Ermittler davon aus, dass sich das Opfer und der Tatverdächtige kannten.

In aller Regel gibt es eine Verbindung zwischen Täter und Opfer. Zur Illustration: Wenn ich nachts durch den Wald jogge, dann ist mir das zwar sehr unangenehm. Aber dass da jemand hinter einem Baum sitzt und darauf wartet, dass ich da vorbei laufe – wenn man das rational durchdenkt – dann ist das doch sehr unwahrscheinlich.

Die meisten Verbrechen passieren ohnehin in den eigenen vier Wänden – wobei wir wieder bei der gefühlten Sicherheit wären.

Massive Gewalt kommt in den allermeisten Fällen aus dem sogenannten Nahfeld, häufig aus der eigenen Familie. Oder: junge Leute gehen abends aus, trinken etwas – Alkohol spielt oft eine Rolle –, lernen jemanden kennen. Und daraus resultiert eine schwere Straftat. Auch das gibt es. In so einem Fall bestünde die Vorbeziehung in einer flüchtigen Bekanntschaft.

Im Fall der getöteten Ayleen in Hessen nahm der mutmaßliche Mörder Kontakt über das Internet auf. Gibt es da aus Kriminologen-Sicht etwas zu beachten?

Naja, Eltern sollten schon schauen, was ihre Kinder im Internet so machen. Das scheint mir plausibel zu sein, ohne dass ich jetzt Untersuchungsergebnisse dazu habe, inwieweit die Gefahren schwerer Verbrechen durch Begegnungen im Netz steigen.

Was bewirkt es denn, wenn der Name eines getöteten Menschen öffentlich gemacht wird?

Das emotionalisiert natürlich. Das ist meiner Meinung nach ein Phänomen, das mit dem Internetzeitalter einhergeht. Wir kennen mittlerweile von jedem getöteten Kind den Namen – und wenn wir im Netz unterwegs sind, dann sehen wir auch Bilder. So entsteht eine große Anteilnahme, und für Medien ist das ja auch ein Verkaufsargument.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mörder gefasst wird?

Sehr hoch. Wenn die Tat bekannt wird, liegt sie bei mehr als 90 Prozent. Also ich habe immer den Eindruck, dass die Polizei gute Arbeit bei der Aufklärung schwerer Straftaten macht. Und dabei hilft wieder, dass in der Regel eine Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht.

Kinzigs Forschungen und was es Neues zu den Tötungsdelikten gibt

Persönliches
 Jörg Kinzig ist 59 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Der gebürtige Mannheimer hat in Heidelberg, Lausanne und Freiburg Jura studiert und ist seit Herbst 2011 Direktor des Instituts für Kriminologie sowie Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Straf- und Sanktionenrecht an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Sanktions- und Strafverfahrensforschung, Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Gewaltkriminalität, Kriminologie und das Jugendstrafrecht.

Fall Tabitha
 Zehn Taucher haben am Dienstag in der Enz Beweise im Fall der getöteten Tabitha E. aus Asperg gesucht. Die 17-Jährige war Mitte Juli in Unterriexingen gefunden worden, ein 35-jähriger Tatverdächtiger sitzt in Untersuchungshaft, er schweigt. Der Tauchereinsatz war ursprünglich dazu gedacht, Kampfmittel zu beseitigen, die in der Enz gefunden worden waren. Die Polizei hofft, bei der Aktion in dem Markgröninger Teilort nahe des Fundorts der Leiche Gegenstände der Jugendlichen zu entdecken. Vor zwei Wochen war an der Stelle schon einmal der Fluss inspiziert worden. Dabei stießen die Beamten auf das Kriegsmaterial, das nun aus der Enz gefischt wurde. Die Polizei hat Maschinengewehrmunition aus dem Zweiten Weltkrieg und zwei Panzergranaten geborgen. Welche Erkenntnisse die Tauchgänge im Fall von Tabitha E. erbrachten, darüber macht die Polizei keine Angaben. Der Grund: In dem Tötungsfall läuft es auf einen Indizienprozess hinaus. Entsprechend wenig will die Staatsanwaltschaft vorher der Öffentlichkeit mitteilen.

Fall Danziger Straße
Bei dem Tatverdächtigen, der in Ludwigsburg einen 79-Jährigen erstochen haben soll, wurde ein forensisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben.