Der 1846 erlegte Luchs ist im Naturkundemuseum in Stuttgart zu sehen. Foto: Horst Rudel

„Friedl geht es gut. „Wir haben schon lange kein Signal mehr erhalten“, sagt Johanna Fritz von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt in Freiburg . Funkstille bedeutet, dass der bei Weilheim geortete, mit einem Sender versehene Luchs an der nahen A8 noch nicht unter die Räder gekommen ist.

Weilheim - Was der Eurasische Luchs (lateinisch: Lynx lynx) nicht und viele Menschen wohl nicht mehr wissen: Der Schwarzwälder Friedl, der sich vermutlich auf der Suche nach einer Lebensgefährtin in den Kreis Esslingen verirrt hat, bewegt sich bei seinem Streifzug durch die Hangwälder am Fuß der Alb auf historisch vermintem Gelände. Im nahen Neidlingen, nicht weit der Burgruine Reußenstein, hat der letzte in Württemberg aufgetauchte Vorfahr Friedls sein Leben an einem bitter kalten Wintertag ausgehaucht.

Showdown auf Gemälde verewigt

Es geschah im Jahr 1846, am frühen Morgen des 15. Februars. Dem durch Treiber aufgescheuchten, 44 Pfund schweren Luchs ist direkt unterhalb der Burgruine eine Kugel aus dem Gewehrlauf des Königlichen Revierförsters Marz aus Wiesensteig zum Verhängnis geworden. Von dem Showdown am Reußenstein zeugt ein zeitgenössisches Gemälde, das im Rathaus der Göppinger Kreisgemeinde Wiesensteig hängt. Es zeigt die letzten Sekunden der allerletzten Raubkatze, die es gewagt hatte, württembergisches Geläuf zu betreten. Genau genommen ist der namenslose Luchs damals einem Irrtum zum Opfer gefallen. Ein frisch gerissenes Reh hatte den Förstern schon Tage zuvor verraten, dass ein Raubtier auf Beutezug durch die Wälder schlich.

Bis zum Schluss waren die Jäger allerdings der festen Überzeugung gewesen, einem Wolf auf den Fersen zu sein. „Dabei sind die Fährten von Wolf und Luchs im frisch gefallenen Neuschnee leicht zu unterscheiden. Der Irrtum zeigt aber schon, wie wenig man damals über die Tiere wusste“, sagt Ulrich Schmid, der stellvertretende Leiter des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart. Allerdings, so vermutet Schmid, hätten die Jäger auch nicht anders reagiert, wenn sie von der wahren Natur ihrer Jagdbeute gewusst hätten.

Abschuss war eine Sensation

Ob Wolf oder Luchs war gleichgültig. Wichtiger war den Menschen damals die Unterscheidung in tot oder lebendig. Der Naturkundler Schmid weiß, wovon er spricht. Schließlich ist der Luchs vom Reußenstein, nach allen Regeln der damaligen Kunst ausgestopft und präpariert, heute noch in der Daueraustellung des Stuttgarter Museums zu bewundern. Dorthin ist er schon zwei Tage nach seinem Abschuss gelangt. Ein Abgesandter des Stuttgarter Naturalienmuseums, der Vorgängereinrichtung des Naturkundemuseums, war eigens nach Wiesensteig gereist, um den toten Luchs sicherzustellen. „Der Luchs galt damals im Land schon seit Jahrzehnten als ausgestorben. Von daher war der Abschuss schon eine Sensation“, sagt Schmid.

Ein Hinweis an der Vitrine hilft den heutigen Museumsbesuchern, den mit aufgerissenem Maul und hervortretenden Augen präparierten Luchs im Kontext der Zeit zu sehen. „Die Sicht auf die Raubtiere damals unterscheidet sich stark von unserer heutigen. Die Tiere sind gern auf gefährlich getrimmt worden“, sagt Schmid. Mit den Darstellungen sei das alten Vorurteil von der blutrünstigen und angriffslustigen Natur der Beutegreifer unterstrichen worden. Ansonsten aber haben die Präparatoren vor 160 Jahren eine hervorragende Arbeit abgeliefert. „Unser Luchs ist in einem sehr, sehr guten Zustand. Das Alter sieht man ihm nicht an“, sagt Schmid und prophezeit dem Tier noch ein langes (Nach)Leben im Museum. Eine kleine Korrektur würde Ulrich Schmid dann doch noch liebend gerne vornehmen. „Es wäre schön, wenn wir eines Tages den Zusatz „der letzte Luchs“ streichen könnten sagt er.

Das Ende des letzten württembergischen Luchses hatte noch ein unwürdiges Nachspiel. Einem Beitrag von Wilfried Ott in der „Schwäbischen Heimat“, der Zeitschrift des Schwäbischen Heimatbundes zufolge, hatte der stolze Revierförster bei König Wilhelm I. persönlich eine Abschussprämie für sich reklamiert – wegen der ungewöhnlichen Körperanstrengung, die er hatte auf sich nehmen müssen. Nach längerem Hin und Her wurde Marz mit dem eher unerheblichen Geldbetrag von zehn Gulden abgespeist.

Freude bei Tierschützern

Wäre der Förster heute zum Schuss gekommen, hätte er eine Menge Ärger am Hals. Der Luchs genießt nach dem Bundesjagdgesetz in Deutschland eine ganzjährige Schonzeit. Auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten ist er unter der Kategorie I – vom Aussterben bedroht – geführt. Europaweit gilt er als streng geschützte Art von gemeinschaftlichem Interesse.

Umso größer war die Freude bei den Tierschützern bis hinauf zum für Schutzbelange zuständigen Landesminister Alexander Bonde, als Friedl vor fünf Monaten über die Schweizer Grenze in den Schwarzwald gewechselt war. Dort ist das junge Luchsmännchen den Experten vom Luchsmonitoring in die Falle gegangen. Über die Signale eines Halsbandsender lässt sich seither der Weg des Tieres nachverfolgen. „Wir wollen feststellen, ob Luchse länger bei uns bleiben, oder weiterziehen und welche Wege sie dabei benutzen“, sagt Micha Herdtfelder, der Wildtierexperte der Freiburger Forschungsanstalt. Nach Einschätzung seiner Kollegin Johanna Fritz könnte sich der junge Luchs die weiten Wege sparen. „Der Lebensraum auf der Schwäbischen Alb würde seinen Bedürfnissen entgegenkomen“, sagt sie. In den Wäldern herrsche kein Mangel an Rehen, der Hauptnahrung des Luchses. Und dem Menschen aus dem Weg zu gehen, sei ohnehin die Spezialdisziplin der scheuen, etwa schäferhundgroßen Raubkatze. Die Chance, dass Friedl am Albtrauf tatsächlich sesshaft wird, ist allerdings gering. „Er ist auf der Suche nach einem Weibchen. Und da muss er schon bis in den bayrischen Wald oder in den Harz wandern“, sagt Johanna Fritz. Das seien Entfernungen, die ein gesundes Tier der Liebe wegen ohne weiteres zurücklegen würde.

Wohin Friedls leise Pfoten ihn tragen, können die Wissenschaftler nur noch bis zum April des kommenden Jahres nachverfolgen. dann löst sich das Halsband automatisch und die Raubkatze kann wieder unbeobachtet ihrer Wege gehen.