Auch wenn es schönere Plätze gibt, freuen sich Autofahrer, dass sie in zentraler Lage parken können. Foto: Roberto Bulgrin

Im Zentrum der Altstadt gibt es einen Ort, der alles andere als einladend wirkt: Autos parken dort auf notdürftig befestigten Flächen, unter denen sich ein spannendes Fenster in die Vergangenheit öffnet. Unsere Serie über Lost Places

Man rühmt sich gern der Reize der historischen Altstadt: Liebevoll restaurierte Fachwerkgebäude, malerische Häuserzeilen und markante Kirchenbauten prägen das Bild einer Stadt mit Geschichte. Dazu passt so gar nicht der Anblick, den das Areal in zentraler Lage bietet: Autos stehen auf der mehr schlecht als recht befestigten Fläche dicht an dicht, bei Regen entstehen Pfützen. Wer nicht aufpasst, kann in einem der oft überraschend tiefen Schlaglöcher landen, achtlos weggeworfener Müll liegt herum. Die Rede ist von der Ecke Martinstraße und Ehnisgasse mitten in Esslingen.

 

Und wenn erst im angrenzenden Karstadt-Kaufhaus an der Bahnhofstraße die Lichter ausgehen, wird alles noch ein bisschen trostloser. Ein „Lost Place“ mitten in der City – und zwar einer, der häufig Schlagzeilen schreibt. Seit vielen Jahren soll dort gebaut werden, mit den Besitzern wechselten die Konzepte. Und keiner weiß, wie und wann es dort weitergeht. Dass unter dem Asphalt Historisches verborgen liegt, ist vielen gar nicht mehr bewusst.

„Auf eigene Gefahr“ am Lost Place

Auffällige gelb grundierte Schilder warnen an den grauen Metallgitterzäunen: „Privatgrundstück/Kein Winterdienst. Betreten, Befahren und Parken auf eigene Gefahr. Eltern haften für ihre Kinder.“ Doch das wirkt auf viele Autofahrer gar nicht abschreckend. Häufig ist der provisorische Parkplatz stark frequentiert. Seit keine Gebühren mehr verlangt werden und nur noch lose Kabelknäuel und ein paar Leichtmetallrahmen an die Schranken erinnern, die längst abgebaut sind, nutzen viele die Möglichkeit, ihr heiliges Blechle mitten in der Innenstadt kostenlos abzustellen.

Bei Regen bilden sich in den Schlaglöchern tiefe Pfützen. Foto: Roberto Bulgrin

Da nimmt sich mancher gerne etwas Zeit, um auf ein freies Plätzchen zu warten. Dass oft recht wild geparkt wird, schreckt offenbar nicht ab. „Warum auch?“, fragt ein Autofahrer, der schon länger wartet, um einen freien Platz zu ergattern. „Wenn man nichts zahlt, kann man auch nichts erwarten. Hauptsache, ich kann mein Auto hier parken und habe es nicht weit zu den Geschäften in der Bahnhofstraße oder der Pliensau.“

Da werden viele nicht widersprechen. Trotzdem sollte man auf dem Gelände, an dem Passanten ob des morbiden Charmes oft nur kopfschüttelnd vorübergehen, besser etwas genauer hinschauen, weil dort allerhand herumliegt. Leere Vespertüten sind für Autofahrer kein Problem. Auch eine bunte Tasche, in der Feiernde wohl die traurigen Überreste einer nächtlich-spontanen Parkplatz-Party gedankenlos zurückgelassen haben, ist allenfalls ärgerlich. Bei Scherben und Ähnlichem sollte man allerdings entschieden vorsichtiger sein. Derweil setzt ein rotes Handytäschchen, das aufgespießt auf seinen einstigen Besitzer wartet, inmitten von all dem tristen Grau wenigstens einen kleinen bunten Farbtupfer. Doch der wird leicht übersehen, wenn der Blick auf zerbrochene Verkehrsmarkierungen oder eine in die Jahre gekommene und illegal entsorgte Küchenspüle fällt, die wie selbstverständlich am Metallzaun lehnt. Was viele nicht ahnen: Dieser „Lost Place“ befindet sich auf geschichtsträchtigem Grund. Als 2017 auf dem Karstadt-Parkplatz gebaut werden sollte, drückten die damaligen Investoren mächtig aufs Tempo. Die Grabungen, wie sie bei Bauprojekten in der historischen Innenstadt obligatorisch sind, ehe die Bagger anrücken dürfen, mussten stark beschleunigt werden, die Denkmalschützer sprachen von einem „engen Zeitplan“. Hinter vorgehaltener Hand hieß es damals, der Zeitplan sei sogar viel zu eng für das, was man im Untergrund vermutete. Historische Pläne und Probebohrungen hatten den Denkmalschützern gezeigt, dass sie sich im Bereich der spätmittelalterlichen Stadterweiterung bewegen und dass sich eine Grabung lohnt.

Archäologen haben das Gelände 2017 untersucht. Foto: EZ//Andreas Kaier

Leer geräumte Fäkaliengruben fand das Grabungsteam damals ebenso wie einige Keller, Brunnen sowie eine mit Lehm ausgekleidete Rinne. „Das könnte die Abflussrinne eines Schlachters gewesen sein“, vermutete die Grabungsleiterin. Geborgene Keramikteile ließen die Denkmalpfleger davon ausgehen, dass die Häuser an der Ehnisgasse „frühestens im 13. Jahrhundert, eher jedoch im 14. und 15. Jahrhundert gebaut wurden“. „Aufgrund der Befunde kann man außerdem davon ausgehen, dass in diesem Quartier hauptsächlich Kleinhandwerker gelebt haben“, erklärte die Grabungsleiterin.

Achtlos entsorgter Müll erinnert an eine spontane Parkplatz-Party. Foto: privat

2017 sollte mit der Bebauung des Karstadt-Parkplatzes alles ganz schnell gehen – passiert ist dort bis heute nichts. Immer wieder wurden die Pläne überarbeitet. Das Konzept hat sich mittlerweile von Einzelhandel deutlich in Richtung Wohnungsbau verschoben. Wegen der Höhe und Dichte der geplanten Bauten gab es massive Kritik. Der Investor speckte sein Vorhaben daraufhin leicht ab. Trotz anhaltender öffentlicher Kritik genehmigte der Gemeinderat schließlich den neuen Bebauungsplan in der (vergeblichen) Hoffnung, Karstadt zu sichern. Eine Baugenehmigung ist erteilt. Ob und wann die Bagger anrollen, weiß derzeit aber noch keiner.

Geheimnisvolle Orte in der Region

Lost Places
 Dieser Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen ihre geheimnisvolle Aura. „Lost Place“ ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir Lost Places in der Region vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.