Seltener Einblick in die Werzalit-Industriebrache in Oberstenfeld. Foto: Werner Kuhnle www.kuhnle-foto.de

Die Maschinen stehen still, die Stimmung ist gespenstisch. Das riesige Werzalit-Areal ist ein für die industrielle Produktion verlorener Ort. Seine Geschichte ist aber noch nicht auserzählt. Unsere Serie über Lost Places in der Region

Jazz war 2023 angesagt: Zum 100-jährigen Bestehen der Marke gab es flotten Bebop oder lässigen Calypso, und für den „Groove“ sorgte zudem die neueste Kreation: ein gleichnamiger Hocker aus Trockenschlempe, beim Bierbrauen entstehende Getreidereste. Die Musik aber spielte längst nicht mehr am einstigen Stammsitz von Werzalit, sondern etwa im fernen französischen Rochefort, wo die in den Produktnamen musikalisch inspirierten Kreationen für die Ausstattung von Bars und Bistros die Werzalit-Geschichte fortschreiben.

Die Natur holt sich den Lost Place zurück

Dort aber, wo alles einst seinen Anfang genommen hatte, braucht es für Ortsfremde schon Mühe, überhaupt den Zugang zum Werksgelände in Oberstenfeld zu finden. Oder Kenntnis davon, dass sich hinter dem Wegweiser „LEVKAS“ der heutige Eigentümer der Liegenschaft mit dem ausgedehnten Betriebsgelände der abgewickelten Firma verbirgt.

Am verschlossenen Werkstor hängen fünf Briefkästen verschiedener Firmen – keine Spur von Werzalit. Eine solche findet sich nur noch linker Hand, auf einem fast ausgebleichten Besucher-Parkplatzschild „Werzalit Betriebsgelände“, halb verborgen hinter einem Baugitter, hinter dem wiederum die Natur sich die Parkfläche zurückzuholen scheint.

Dass hier einmal mächtig Betrieb geherrscht haben muss, davon kündet ein wuchtiger, wie ein Warnobjekt auf das über zwei Meter hohe Metalltor gesetzter, schwarzer Kasten, der den Einfahrenden die Botschaft von Kollisionsgefahr beim Werksverkehr in drei Kategorien verdeutlicht hat: „Unfallfreie Tage, Unfälle im laufenden Jahr, Unfälle im Vorjahr“. Längst sind die zugehörigen Zahlenfensterchen blind und dunkel.

Das Werkstor ist verwaist. Foto: Werner Kuhnle

Ein letztes stummes Zeugnis

Wie ein schlafender Riese wirkt dagegen von außen die lang gezogene Halle am östlichen Rand des Fabrikgeländes. Die vertikalen Lamellen der tannengrünen Fassade – die auch nach Jahrzehnten noch fast wie neu wirken – bilden ein saisonales farbliches Unisono mit dem davor platzierten Christbaum-Markt. Geradeso, als wollten sie noch ein letztes, stummes Zeugnis geben von der Qualität des hier einst erfundenen, grandios formbaren Werkstoffes aus Harz und Holz, und der daraus geschaffenen, in alle Welt verkauften Produkte: Werzalit forever.

Werzalit war einst der größte Arbeitgeber am Ort. /Werner Kuhnle

Die Dimension, die das Ganze einst hatte, auch in der Bedeutung als größter Arbeitgeber am Ort, lässt sich auch in der verblüffenden Silhouette veranschaulichen, die der Panoramablick im Schwenk von West nach Süd ergibt: Rechts lugt über den Dächern des Ortskerns der Helm der Stadtkirche hervor, gefolgt vom Vierecksturm der Stiftskirche, der in auf- und dann absteigender Linie ganz unmittelbar überragt wird von gleich drei Bauwerken des Werzalit-Geländes – einem hohen Stahlrohr-Schornstein inklusive.

Die Produkte wurden in alle Welt verkauft. /Werner Kuhnle

Deren Tage aber sind gezählt. Und nicht einmal der monumentale Schornstein soll mehr an dieses durchaus beeindruckende, auch glanzvolle, Kapitel Industriegeschichte in Oberstenfeld erinnern. Denn für solche melancholische Reminiszenzen war das wenig rühmliche Werzalit-Finale, das am Ende bis vors Bundesarbeitsgericht führte, wohl einfach zu uneben.

Wenig Melancholie, dafür aber viel Hoffnung

Die Outsourcing-Orgie hatte in der Belegschaft zu viele Verlierer hinterlassen, als dass das alles als erinnerungswürdig empfunden werden könnte. „Die Sache ist entschieden“, stellt Oberstenfelds Bürgermeister Markus Kleemann trocken fest, während der Gedanke an die Zukunft postwendend Glanz in seine Augen zaubert. Abriss und Rückbau des einstigen Werzalit-Areals biete Oberstenfeld eine „großartige Entwicklungschance“, mit Wohnraum für über 1000 Einwohner, durchmischt mit Gewerbe, mit Infrastruktur wie Kinderhäusern und Pflegeheim oder neuem, attraktivem Erlebnisraum entlang der mitten durch das Areal fließenden Bottwar. Und alles organisch verbunden mit dem Ortskern und dem südlich gelegenen Quartier.

Die Bottwar fließt mitten durch das Gelände. Foto: Werner Kuhnle

Schon 2024 soll es losgehen, mit der Transformation des einzigen aus dem Bestand verbleibenden Gebäudes, der in der Substanz intakten Sheddach-Halle, die in einen Supermarkt für die Nahversorgung verwandelt wird. Ein Betreiber sei gefunden, der aber noch nicht zu veröffentlichen sei, wie Wolfgang Matt sagt, Geschäftsführer der Levkas GmbH, einer hundertprozentigen Tochter der Volksbank Backnang.

Die Sheddach-Halle wird wohl als einziges Gebäude überleben. Foto: Werner Kuhnle

Matt weiß auch, dass es ernsthafte Interessenten gab für eine industrielle Weiternutzung des Geländes, damit wäre durchaus „schnelles Geld“ zu machen gewesen: „Wir wollten aber nicht wie ein gewöhnlicher Investor agieren. Als Genossenschaft sind wir in der Region verwurzelt und fühlen uns den Menschen verbunden. Deshalb soll hier etwas Dauerhaftes und Nachhaltiges geschaffen werden“, betont er beim Gang durch die „Tischplattenstraße“.

Allein der Name lässt noch einmal diese urschwäbische Tüftler- und lange Zeit sehr erfolgreiche Mittelständler-Historie mit über 600 Patenten für Holzform-Produkte aufleuchten, von der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart vor noch nicht langer Zeit in schönste Marketing-Prosa gefasst: „Täglich verlassen Tausende der homogen verpressten Tischplatten mit unterschiedlichen Mustern die Produktionshallen in Oberstenfeld und werden in aller Herren Länder exportiert.“ Dafür aber ist der Platz nun definitiv verloren. Gewonnen werden soll eine Zukunft ganz anderer Art. Und das ist für Oberstenfeld durchaus eine Art Verheißung.

Lost Places in Stuttgart und Region

Verlassene Orte
In der Region Stuttgart auf gedachten Diagonalen zwischen Welzheim und Herrenberg, Vaihingen/Enz und Nürtingen gibt es mehr Lost Places als man denkt. Eine Auswahl porträtieren wir zum Jahreswechsel 2023/2024.

Geheimnisvolles Stuttgart
Auch direkt in der Landeshauptstadt finden sich viele Überraschungen. Von Tipps und Ausflugszielen bis hin zum Lost Place sammeln wir sie online unter dem Titel „Geheimnisvolles Stuttgart“.