Treulich geführt: Michael König (li.) als Lohengrin, Simone Schneider als Elsa mit dem Staatsopernchor Foto: Michael Baus

Mit großer Spannung ist an der Staatsoper Stuttgart die erste Opernpremiere unter der Intendanz von Viktor Schoner erwartet worden. Zum reinen Glück fehlte bei „Lohengrin“ am Samstag aber vor allem szenisch Stringenz. Das Publikum quittierte die Regie mit einigen Buhrufen – und bejubelte Sänger, Chor, Orchester und den neuen Generalmusikdirektor Cornelius Meister.

Stuttgart - Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Schön sehen sie aus, die weißen Luftballons vor dem Opernhaus; bände man sie los, dann würden sie langsam aufwärts trudeln und die Fragen, mit denen sie bedruckt sind, mitnehmen in den nachtschwarzen Himmel über Stuttgart. Auf der Bühne drinnen geht es lösungsorientierter zu: Dort versuchen der Regisseur Árpád Schilling, der Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt und der neue Generalmusikdirektor der Staatsoper, Cornelius Meister, die großen Fragen von Richard Wagners „Lohengrin“ zu beantworten.

Am klügsten und am dramaturgisch zwingendsten wirkt dabei die Musik. Der Beginn, das Vorspiel zum ersten Akt, mag dabei noch eine Spur zu direkt, in manchen Momenten außerdem ein wenig nervös ausgefallen sein – was man vor allem am Ende spürt, wenn der Bogen nochmals zurückführt zum filigranen Anfang. An diesem Ende wirkt dieser Streicherklang, mit dem Wagner die Sphäre des Grals beschreibt, anrührend zerbrechlich, ja geradezu utopisch. Ein Märchen, ein Traum: Von dort kommt Lohengrin her, dort geht er wieder hin, und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute. Zwischendurch modelliert Cornelius Meister am Pult detailliert durchgestaltete Bögen, differenziert fein Klangfarben, (sehr bewegliche) Tempi und ein weit gespanntes dynamisches Spektrum, das von Pianissimo-Akzenten in einer akustisch exzellent präsentierten Bühnenmusik bis hin zur geballten Wucht von zwölf auch in den Logen prominent platzierten Trompeten reicht, die das äußerste Extrem des im Saal akustisch Möglichen ausreizen.

Enorm genau und klangschön: der Staatsopernchor Stuttgart

Man verließe den Abend schon dann beglückt und bereichert, wenn man sich nur auf die musikalischen Feinheiten im Dialog zwischen Orchestergraben und Bühne konzentrierte: also auf die Art, mit der Cornelius Meister die Stimmen trägt und geleitet, immer mit Blick auf die optimale Balance zwischen Instrumentalem und Vokalem.

Davon profitiert der vom neuen Chorleiter Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor, der an diesem Abend, bei dieser anspruchsvollen Choroper, so genau und (auch im Ensemble der vier Edelknaben, die aus dem Chor besetzt wurden) so klangschön singt, als gelte es, den ihm gerade erst zuerkannten Titel des „Opernchors des Jahres“ rückwirkend zu rechtfertigen. Mit ihrer exzellenten Textaussprache sorgen die Sänger überdies nicht nur für Gänsehautmomente, sondern auch für einen oft atemraubenden Wechsel der Atmosphären. Allein kurze Einwürfe der Männer wie etwa das fast geflüsterte „Wie sonderbar? Träumt sie? Ist sie entrückt?“ im ersten Akt haben alles, was Musiktheater haben und sein muss: Klang, Sprache, Farbe, Emotion und szenische Gestalt.

Vom Zugriff des Dirigenten profitieren auch die Solisten. Simone Schneider zuallererst, die hier ein hinreißendes Rollendebüt als Elsa gibt, denn ihr eminent farbreicher, dabei klar geführter Sopran findet gerade im klangfarblichen Zusammenwirken mit dem Orchester immer wieder zu starken emotionalen Momenten. Für ihre Bühnen-Kontrahentin Okka von der Damerau (Ortrud) gilt das ebenfalls – dass sich bei ihr nicht dieselbe Balance zwischen Stimmschönheit und Ausdruck herstellt, ist vor allem der Exaltiertheit ihrer Partie geschuldet. Von der Damerau lebt sie aus – und nimmt dafür in Kauf, dass ihr Sopran in der Höhe auch mal flattert oder dass nicht jeder Ton eine Punktlandung ist.

Der Held wird aus dem Volk herausgestoßen

Letzteres ist auch bei Michael König festzustellen, der leider gerade an prominenten Stellen (besonders deutlich bei seinem unbegleiteten, „nackten“ Auftreten) gerne ein bisschen zu tief intoniert und gelegentlich auch ein Zuviel an stemmender Kraft nicht scheut. Man verzeiht ihm das aber, denn ihm gelingt es nicht nur mit kluger Ökonomie, bis zur Gralserzählung im dritten Akt durchzukommen, sondern er ist auch als Typ klasse besetzt. Allerdings sind spätestens hier Musik und Szene eigentlich nicht mehr zu trennen. Denn König ist auch, was der Regisseur Árpád Schilling aus ihm macht: nämlich einer, der anfangs aus der Menge herausgestoßen wird, der zurückdrängt, weil er eigentlich gar kein Held sein will, und der doch bleiben muss, weil ein orientierungslos gewordenes Volk einen Führer haben will, der ihm Wege weist und es womöglich gar an Wunder glauben lässt.

So wirkt auch Martin Gantners grandioses Porträt des Telramund: Mit welcher artikulatorische Prägnanz, mit welcher musikalischen Genauigkeit zeichnet dieser Bariton das Bild eines schwachen, getriebenen Menschen! Überzeugend fügen sich, obwohl sie sängerisch an Grenzen stoßen, auch Goran Juric als Heinrich und Shigeo Ishino als Heerrufer ein in Klang und Bild.

Dass die Szene nicht durchwegs überzeugt, ist mit dem Stück selbst geschuldet. Wagner erzählt in seiner letzten romantischen Oper neben einer Geschichte von Kampf, Rettung, Künstler- und Heldentum auch das Märchen von einem Thronfolger, der erst verzaubert und dann ins Leben zurückgeholt wird; beide Erzählstränge treffen sich im Symbol des Schwans. Der Ungar Árpád Schilling, sicht- und spürbar geprägt von der jüngeren Geschichte seines Heimatlandes, erzählt vor allem eine Geschichte: nämlich die einer postrevolutionären Gesellschaft, die, vollständig entgöttlicht und unentschieden zwischen altem und neuem System, einen der Ihren zu jener Leitfigur macht, die sie herbeisehnt. Ein Führer kann aber nichts erreichen, wenn sich das Volk nicht mit ihm verändert – und so folgt dem Glück am Ende die vollständige Desillusionierung. Der Held ist weg, und wütend geht der Mob auf diejenige los, der er die Schuld an der Misere zuschiebt: Elsa, der aufgeklärten Frau.

Magische Momente neben szenischem Leerlauf mit Nippes

Die Schussszene ist stark, und auch zuvor findet Schilling für seinen Ansatz überzeugende Bilder: Wie das Volk seinen Helden gleichsam aus sich herausschleudert, wie es den Kampf zwischen Lohengrin und Telramund schlicht durch seine Positionierung neben dem neuen Helden entscheidet, wie es nach Ortruds „Erfahrt, wie sich die Götter rächen!“ mit leeren Augen in einen leeren Himmel starrt: Das sind packende, ja magische Momente. Hinzu kommen kleine, sprechende Gesten: beispielsweise wenn Telramund Elsa, die er immer noch liebt, körperlich angeht, oder wenn Lohengrin Elsa um den Unterleib fasst, während er vom toten Bruder singt, der nach einem Jahr des Zusammenlebens gewiss zurückgekommen wäre.

Das Dumme ist, dass da auch noch das Märchen ist. Das Wunder. Das Frageverbot, das Lohengrin ausspricht, passt nicht zu einem Mann des Volkes, der eigentlich nur ein ungewollter Primus inter pares sein soll. Árpád Schilling erzählt aber nur seine Geschichte, und in Szenen, in denen sie nicht passen will, gibt es Leerlauf. Dass der Regisseur dann immer wieder sein auf überzeugende Weise reduziertes Konzept aufgibt, ist schade – vor allem wenn er auch noch Inszenierungs-Nippes (Kuscheltierschwäne, kleine und große, in der Hand, in der Luft, unter dem Brautbett) auffährt.

Dann kann man sich immerhin an den zunehmend bunter werdenden Kostümen von Tina Kloempken erfreuen, die das wachsende Selbstbewusstsein und die zunehmende Diversifizierung der Gesellschaft spiegeln. Oder man kann die schlichte Schönheit der nahezu requisitenlosen Bühne genießen, die Raimund Orfeo Voigt als nach hinten sich verengenden und abfallenden, dunklen, engen Guckkasten gebaut hat. Dass der Chor hier selbst beim Abgehen präsent klingt: Das allerdings ist ein Wunder. Woher es kommt, mag man ahnen (die Bühne ist auch akustisch exzellent gebaut). Wohin es geht, wird man erst wissen, wenn das Haus saniert ist. Aber das ist ein anderes Märchen.