Szene aus dem dritten Akt von „Lohengrin“ in Bayreuth Foto: Enrico Nawrath

Yuval Sharons Inszenierung von von Wagners „Lohengrin“ profitiert vom starken Bühnenbild, leidet aber auch unter ihm. Entsprechend bleibt das Ergebnis unentschieden: irgendwo in der Mitte zwischen Dekoration und Interpretation.

Bayreuth - Die Musik zu Wagners „Lohengrin“, schwärmte Friedrich Nietzsche, sei „blau, von opiatischer, narkotischer Wirkung“. Bei der Eröffnungspremiere der Bayreuther Festspiele ist jetzt die ganze Bühne blau. Am Ende von Wagners letzter romantischer Oper läuft ein grünes Männchen (als wiederauferstandener Gottfried!) über die Bühne, dessen Gesicht und Statur verdächtig derjenigen von Karl Marx ähnelt. Und rechts und links liegt das Volk am Boden, als hätte das Opium der Religion es dahingerafft.

Das ist der Bogen, den die Neuinszenierung von Wagners „Lohengrin“ auf dem Grünen Hügel schlägt. Zu erleben ist allerdings weniger eine Erklärung des Stücks denn eine Nachempfindung aus dem Geist starker Bilder (und Kostüme), die das Leipziger Künstlerpaar Neo Rauch und Rosa Loy erdacht hat. Deren Ausgangspunkt ist die große Fläche, und die Wurzeln der monumentalen Bühnengemälde reichen bis tief hinein ins 19. Jahrhundert. Wolkenballungen, Wasserwogen, hohes Gras und drei aus dem Blaugrau des Himmels herausbrechende Sonnenstrahlen prägen den Hintergrund, und im zweiten Akt gibt es vorne verschiebbare zweidimensionale (Busch-)Kulissen, hinter denen Ortrud und Telramund (auch dank Roland Traubs exzellenter Lichtregie) hervortreten wie Figuren aus einem Gemälde.

Lohengrin bringt dem Land die Energie zurück

Den Vordergrund der Bühne prägt ein zugewachsener, etwas verwahrlost wirkender Strom-Transformator, eine Ruine in einem Land, dem die Energie abhandenkam. Im zweiten Akt wird ein Teil der Umspannstation zur Kemenate, aus deren rückwärtigem Fenster Elsa herausschaut wie Rapunzel aus dem Turm. Zur Brautszene schließlich dreht sich dieser und gibt den Blick frei auf ein ganz in Orange gehaltenes Bett. Ein tödlicher Stromschlag wird von hier aus auf Telramund niedergehen, und Lohengrin, seit seiner wirkungsvollen Landung mit einem stilisiert-futuristischen Schwanen-Ufo als Erlöser gefeiert, wird, indem er Elsa an einen Mast fesselt, seinen Offenbarungseid leisten: Der mächtig gewordene Revolutionär, der gegen ein autoritäres Regime antrat, scheitert in dem Moment, in dem er selbst Macht hat und sich ihrer bedient.

Dies alles hat Yuval Sharon herausgearbeitet, der als Regisseur einsprang, nachdem der eigentlich vorgesehene Alvis Hermanis (übrigens aus Protest gegen Angela Merkels „Wir schaffen das!“-Politik der offenen Grenzen) abgesagt hatte. Im dritten Akt erlebt man einiges, das Sharon verantwortete: Hotelbibeln, die nach den gemeinsam besungenen „Wonnen, die nur Gott verleiht“, wieder in der Nachttischschublade verschwinden; eine jetzt orangefarbene, emanzipierte Elsa, die Lohengrins Horn, Schwert und Ring in einer Art Mülleimer-Rucksack aufgebürdet bekommt. Sie und Ortrud, die (hier: zu Recht) Zweifelnde, dürfen überleben: zwei starke Frauen, denen die Inszenierung mehr Zukunft zutraut als den bigotten und korrumpierten männlichen Eliten. Sprechenderweise hefteten Rauch/Loy diesen große Insektenflügel (Fliegen? Motten?) an den Rücken, während sie den Damen lediglich gestutzte Flügelchen zugestanden – eine interessante Reibung zwischen den Setzungen des Stücks, der Ausstatter und des Regisseurs.

Neben den starken Bildern kann der Regisseur oft nur die Personen arrangieren

Sie bleibt allerdings die einzige, denn ansonsten musste sich Yuval Sharon auf das beschränken, was neben den starken Bildern für ihn übrig blieb. Deshalb erschöpfen sich nach dem Kampf Lohengrins gegen Telramund (mit Sänger-Doubles, die an Seilen vom Schnürboden hängen) weite Strecken der Inszenierung in einem bloßen Arrangement von Solisten und Chor, vornehmlich symmetrisch rechts und links oder auch frontal zum Publikum. Das ist dann weiß Gott kein „Lohengrin“ unter Hochspannung, sondern ein Rückfall in eine längst vergangen geglaubte Bayreuther Inszenierungs-Ästhetik. Der erste Akt wird lang und länger, und der zweite will überhaupt nicht enden.

Licht und Schatten prägen auch die musikalische Seite der Aufführung. Christian Thielemann dirigiert ein dramaturgisch auf den Punkt gebrachtes Vorspiel, dessen weiter Bogen von zerbrechlichem Streicher-Filigran über ein langsames Crescendo zu einem dramatischen Höhepunkt (mit dem Fragemotiv) kommt, dann wieder ins Filigran zurückfällt – und auf diese Weise schon die ganze Geschichte eines Stücks zwischen Zauber und Gewalt auffächert. In dieser letzten Wagner-Oper, die ihm in Bayreuth noch fehlte, nimmt Thielemann straffe Tempi (der erste Akt dauert bei ihm weniger als eine Stunde). Und er riskiert viel: Kaum hörbar ist das Orchester zu Beginn der Gralserzählung, sehr viel sehr Leises ist zu hören – aber manchmal eben auch nicht. Die Sänger dürfen sich getragen, geleitet, nie übertönt und oft auf wunderbare Weise klangfarblich eingebettet fühlen. Aber die im Bayreuther Festspielhaus so überaus heikle Koordination zwischen dem überdeckelten Graben und der Bühne gelingt bei der Premiere noch nicht immer; vor allem beim Finale stimmt das Timing mit den Solisten und dem (von Eberhard Friedrich wieder auf prägnante Artikulation getrimmten, klangschönen) Chor gar nicht.

Piotr Beczala als Edel-Einspringer für die Titelpartie

Als Edel-Einspringer (für den nicht ausreichend textkundigen Roberto Alagna) gibt Piotr Beczala die Titelpartie mit Schmelz, Glanz und einer klugen Ökonomie, die ein nur ansatzweise angestrengtes Durchkommen auch durch den anspruchsvollen dritten Aufzug garantiert. Außerdem versteht man fast jedes Wort, das er singt – was ansonsten nur von dem (auf Dauer fast über-)prägnanten Tomasz Konieczny als Telramund und von Georg Zeppenfeld als intensiv gestaltendem Heinrich zu sagen ist. Anja Harteros findet nach einem leicht unsicheren und flatternden Beginn als Elsa zu feinen Farben und einer fast ungefährdet strahlenden Höhe. Die nach langer Bayreuth-Abstinenz als Ortrud auf den Grünen Hügel zurückgekehrte Waltraud Meier fällt dagegen stark ab: Unklar verschwimmen Worte wie Klangfarben. Das Publikum indes bejubelt auch sie – und straft das Inszenierungsteam (vor allem wohl wegen des plakativen Schlusses) mit moderaten Buhrufen. Nächstes Jahr kommt mit Tobias Kratzer („Tannhäuser“) der zweite der Karlsruher „Ring“-Regisseure ins Spiel. Es ist zu hoffen, dass er mehr bieten (darf) als nur szenische Aperçus vor monumentalen Kulissen.