Ende der Verlässlichkeit: Englischer Jubel nach dem Sieg im Elfmeterschießen gegen Kolumbien Foto: dpa

Der Mensch schätzt die Konstanten im Leben: Schade nur, dass es immer weniger davon gibt, schreibt StN-Autor Gunter Barner im Leitartikel, jetzt siegen sogar schon die Engländer im Elfmeterschießen.

Stuttgart - Schon als Neugeborener erfährt der Mensch, dass er sich nicht auf jede schöne Gewohnheit blind verlassen sollte. Warum sonst brüllt der Novize auf Erden bisweilen zum Gotterbarmen, um auf seinen Kohldampf aufmerksam zu machen? Klar ist demnach von Beginn an: An der Verlässlichkeit hängt der Mensch zeitlebens so sehr wie der Säugling an der Brust seiner Mutter.

Urmenschlicher Hang zur Konstante

Mit dem urmenschlichen Hang zur Konstante ließen sich ersprießliche küchenphilosophische Abende gestalten. Weil aber Fußball-WM ist, fallen uns zuallererst die Engländer ein, die Queen mit dem Hut und ihr ewiges Leben. Der Inbegriff der Verlässlichkeit. Eigentlich. Wir hatten uns schon gewöhnt an die ewige Nörgelei an der Europäischen Union und an Maggie Thatchers Mantra: „I want my money back.“ Aber so verlässlich die Eiserne Lady ihre Kohle zurückverlangte, so klar schien, dass ihre politischen Nachfahren nicht mit dem Feuer des Austritts spielen. Pfeifendeckel! Obwohl, kann ja auch sein, dass sie es sich noch einmal anders überlegen.

Jedenfalls gewinnen die Engländer jetzt schon WM-Spiele vom Elfmeterpunkt, was den Eingeborenen auf der Insel wahre Glücksgefühle beschert und den Zockern hohe Wettquoten, aber eine Konstante zerstört, die sich als Gewissheit in die Festplatten außerhalb des Mutterlands des Fußballs brannte: Sie können alles, außer Elfer schießen! Noch dazu bestärkt der Sieg im Shoot out gegen Kolumbien das unbehagliche Gefühl des neuerlichen Beweises: Es ist nichts mehr auf dieser Welt, wie es mal war. Nur die Stones spielen noch immer. Aber die zählen nicht. Die sind schon über siebzig.

Anstand und Ehre

Himmel, hilf! Getrieben von der Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Sicherheit ertappt sich der in seiner Vollkasko-Mentalität Beschädigte beim Gedanken, ein mit allen Wassern gewaschener Gerhard Mayer-Vorfelder möge noch einmal zurückkehren: als Präsident beim VfB und DFB. Oder der stets die Welt erklärende Helmut Schmidt: als verlässliche Größe der Politik. Krachender Misserfolg bei einer Weltmeisterschaft und eine VfB-Niederlage gegen den Karlsruher SC wären jedenfalls wieder unbestechliche Gradmesser für das berufliche Fortkommen eines Trainers. Kaum anzunehmen, dass der Bundes-Jogi bei einer Tasse Espresso in Ruhe hätte darüber sinnieren können, ob die Nationalmannschaft noch einmal auf seine Dienste zählen darf oder nicht. Und der eingesprungene Seehofer eines Innenministers wäre auch noch so etwas gewesen wie eine Frage von Charakter, Rückgrat, Anstand und Ehre. Jetzt fährt er angeblich nicht mehr mit dem Zug. Er mag die Durchsage am Bahnsteig nicht hören: Bitte treten Sie zurück!

Unbestritten ist: Die Generationen reichen solche Lamenti seit je weiter wie das Anrecht auf eine Dauerkarte auf der Haupttribüne beim VfB. Aber was hilft diese Erkenntnis gegen den Eindruck, dass Internet und globalisierte Welt mit ihrem Doppelpass alles überspielen, was der Mensch an inneren Abwehrkräften aufzubieten imstande ist? Stimmungen gebiert das Netz im Stundentakt, Meinungen dreht es fast nach Belieben, Informationen werden zum flüchtigen Gut, Big Data errechnet, wenn in der Antarktis mal wieder ein Pinguin ins Wasser plumpst. Und wer sich vergewissern will, dass morgen die Welt untergeht, findet nach ein paar Klicks irgendwo auf diesem Planeten garantiert eine Community aus Berufspessimisten, die es genauso sieht.

Verlässliche Texte

Worauf um alles in der Welt kann man sich noch verlassen? Die Antwort: Auf den täglichen Text unter dieser Rubrik. Blind.

gunter.barner@stuttgarter-nachrichten.de