Clemens Meyer Foto: dpa

Das Literaturhaus hat am zwei Autoren eingeladen, die sich von sehr unterschiedlichen Seiten den Begriffen Gewalt und Brutalität nähern. Zu Gast in Stuttgart sind der Schriftsteller Clemens Meyer und die Wissenschaftlerin Svea Bräunert.

Stuttgart - Was ist Brutalität? Wie geht Literatur mit ihr um? Das Literaturhaus hat am Freitagabend zwei Autoren eingeladen, die sich von sehr unterschiedlichen Seiten Begriffen nähern, zwischen denen sich ein großes Spannungsfeld auftut. Zu Gast in Stuttgart sind der Schriftsteller Clemens Meyer und die Wissenschaftlerin Svea Bräunert.

Meyer, geboren 1977 in Halle an der Saale, veröffentlicht seit 2006 Romane, Erzählungen und Theaterstücke, die sich oft explizit mit Gewalt befassen. In seinem Debütroman „Als wir träumten“ beschreibt er vor autobiografischem Hintergrund die Welt junger Männer im Leipzig der 1990er Jahre; in seinem jüngsten Roman „In Stein“ schildert er das Rotlichtmilieu Leipzigs, das Leben von Prostituierten, Zuhältern, Freiern. Eigens für das Stuttgarter Literaturhaus verfasste Clemens Meyer einen Essay, der sich mit Literatur und Gewalt befasst.

Das weite Feld der Gewalt

Svea Bräunert hingegen hat sich in ihrer Doktorarbeit, die 2015 unter dem Titel „Gespenstergeschichten“ als Buch erschien, auf ein ganz anderes Milieu, einen anderen Zusammenhang konzentriert. „Der linke Terrorismus der RAF und die Künste“ ist der Untertitel ihrer Arbeit. Zwischen Meyer und Bräunert sitzt am Freitagabend José F. A. Oliver, Lyriker zwischen Schwarzwald und spanischer Vergangenheit, dem Brutalität ganz fremd zu sein scheint, der das Augenmerk auf sprachliche Nuancen lenkt und sich bemüht, zwischen beiden Gästen zu vermitteln.

Gemeinsam ist Meyer und Bräunert die Irritation, die der Begriff der Brutalität – vom Literaturhaus gewählt – in ihnen hervorruft. Das Moment des Rohen, Unsublimierten interessiert sie nicht; beide möchten eher das weite Feld der Gewalt diskutieren.

Meyer beschreibt die Vorstellungen, die er mit Literatur und Gewalt verbindet, in sechs Punkten. Die Filmfigur des Rambo kehrt als Leitmotiv wieder, wenn er die Moderne aufruft, das militärische Bild von der Avantgarde, der Vorhut. Der Schriftsteller liefert präzise Beschreibungen aggressiver Technologie, erinnert sich an die DDR („Nazis gab es nicht, nur Faschisten, und die saßen im Westen. Hakenkreuze kritzeln war schick“). Er entdeckt ein aggressives Verhältnis zur Schrift bei Alfred Döblin, John Dos Passos, bei Burroughs und Brinkmann. Und er beschreibt die Recherchen, die er zu seinem Buch unternahm.

Der Versuch, das Gewaltphänomen literarisch zu fassen

Svea Bräunert empfindet gegenüber Meyers Gewaltprosa widerwillige Faszination. Ihr Interesse gilt jedoch vor allem der Frage, weshalb der linke Radikalismus in der deutschen Literatur umfangreich aufgearbeitet wurde, der rechte jedoch nicht. Wenn Bräunert über Gewalt und Kunst nachdenkt, bezieht sie sich oft auf Boris Groys; gemeinsam mit Clemens Meyer vermisst sie den „großen impressionistischen NSU-Roman“, den Versuch, das neue Gewaltphänomen literarisch zu fassen.

Auch Clemens Meyer sieht sich als Kulturpessimisten – auf eine zweifellos gröbere Weise als Groys: Von den rechtsextremen Ausschreitungen in Leipzig wenige Tage zuvor hat er keine Notiz genommen, obschon er sich in der Stadt aufhielt. Gewalt – und also auch Brutalität – scheint ein fester Bestandteil seiner fatalistischen Weltanschauung zu sein, die er mit vollmundigen Thesen auf den Punkt bringt. „Der Mensch“, sagt Meyer, „ist von Natur aus schizophren – sonst würde das alles nicht passieren. Das ist nicht krank, das ist der Normalzustand.“