Vor der Küste Litauens und Russlands ragt die Kurischen Nehrung in die Ostsee. Foto: Erne

Litauen: Wandernde Sandberge, silbern gekräuselte Wellen, bunte Holzwimpel und lichte Wälder.

Hier treffen sich zweimal im Jahr Vogelschwärme und Herrschaften mit Ferngläsern.

Das Vögelchen hält still. Ohne zu zucken liegt es in der schwieligen Hand von Ladislav. Der russische Ornithologe misst Flügel und Rumpf des Buchfinks, steckt ihn dann kopfüber in einen Trichter auf einer Waage und trägt das Körpergewicht in eine Liste ein. Zum Schluss bekommt der putzige Pieper noch einen Aluminiumring ums Bein, dann wird er – schwuppdiwupp – in die Freiheit entlassen. Der Nächste, bitte! Während Ladislav einen Vogel nach dem anderen misst und wiegt, surren Kameras. Der graumähnige Wissenschaftler ist von andächtigen Besuchern aus Deutschland umringt, die auf den Spuren des Naturfilmers Heinz Sielmann die älteste und berühmteste Vogelwarte Europas in Rossitten besuchen. Zum Programm gehört auch Fringilla, die Feldstation in einem Kiefernwald auf der russischen Seite der Kurische Nehrung.

Im Schatten hoher Dünen gehen bis zu 100. 000 Vögel im Jahr in die wie Reusen aufgestellten Vogelfangnetze. Vor allem im Frühjahr und Herbst ist die Landzunge zwischen Ostsee und Haff ein umschwärmter Treffpunkt der Zugvögel. Dann zwitschert und tiriliert es aus jedem Busch, dann lassen sich die eleganten Flugformationen von Graugänsen und riesige Singvogelschwärme beobachten. Auf ihrer langen Reise in den Süden und bei der Rückkehr in den Norden sammeln sie auf der Landzunge Kräfte oder lassen sich zum Brüten nieder. Die Ornithologen von Rossitten machen sich seit 1901 diesen Rast- und Ruheplatz zunutze und ermitteln wichtige Daten über das Zugverhalten von Vögeln.

Beim Rundgang erfahren die Besucher, dass mit den Spendengeldern der Sielmann-Stiftung die 25.000 Euro teuren Fangnetze finanziert werden, dass gerade Vögel aus England und Belgien zu Besuch da sind und dass die Ergebnisse der Vogelkundler einen hohen wissenschaftlichen Stellenwert haben: "Wenn man die genetische Verankerung des Vogelflugs herausfinden würde, dann wäre das Nobelpreiswürdig", sagt Ladislav und schiebt den nächsten, frisch beringten Kandidaten zur Luke hinaus.

Was auf seinem Ring stehe und ob das Fangen und Beringen nicht Tierquälerei sei, wollen die Gäste aus Deutschland wissen. Ladislav gibt geduldig Auskunft: Auf dem Ring stünden Datum, Beringungsort und -land. Und ja, das Fangen sei zwar Stress für die Tiere, aber da sie ihre Gefangenschaft sofort wieder vergäßen, flögen sie manchmal direkt ins Netz zurück – Rekord war 28 Mal. In der Hochsaison werden die Fangreusen halbstündig geleert, wobei Buchfinken die häufigsten Gäste sind und der Feldstation ihren Namen gaben (Fringilla, lateinisch für Fink). Aber auch Meisen, Fitis, Zaunkönig, Mönchsgrasmücke, Star, Rotkehlchen, Gimpel und Wintergoldhähnchen gehen den Ornithologen ins Netz, etwa 200 Arten bis hin zur seltenen Weißohreule. Für die Sielmann-Gruppe gehört der Besuch in Fringilla und in der eigentlichen Vogelwarte im 23 Kilometer entfernten Dorf Rossitten zum Höhepunkt der neuntägigen Reise ins ehemalige Ostpreußen und auf die Kurische Nehrung. Hier verbrachte Heinz Sielmann seine Kindheit und unternahm ersten "Expeditionen ins Tierreich". Aber nicht nur das Wohlergehen der Gefiederten steht im Zentrum der Tour, auch das Naturphänomen der wandernden Dünen auf der Nehrung, die Bernsteinküste und die ostpreußische Geschichte sind wichtige Reisethemen. Am Anfang und Ende steht daher auch Königsberg, die ehemalige Hauptstadt Ostpreußens, die seit 1946 Kaliningrad heißt und zu einer streng abgeschirmten russischen Enklave zwischen Polen und Litauen wurde. In der Heimatstadt Immanuel Kants finden einige Reiseteilnehmer die alten Straßennamen und Wohnviertel von Königsberg wieder, aus denen ihre Familien stammen, und im Ozeanmuseum werden sie an die Abfahrt der letzten Fähre 1945 erinnert. Die Fahrt auf schmalen Landstraßen führt durch elende russische Dörfer, vorbei an leeren Weiden und Felder und durch blühende Wälder. Immer wieder stehen Vögel im Visier und sind Grund genug für einen Stopp, um Störche, Kraniche, Reiher oder gar einen Adler mit dem Fernglas zu verfolgen. In den alten Ostseebädern Rauschen und Cranz mit ihren Villen und Promenaden, mit Klippen und Stränden ist der Bernstein Objekt der Begierde. Und in Palmnicken wird das fossile Harz, das 45 Millionen Jahre in der Erde ruhte, sogar im streng bewachten Tagebau gewonnen.

Den Schlagbaum nach Litauen passieren Reisende nicht so ungehindert wie die Zugvögel, denn kurz vor Nida endet die russische Seite der 98 Kilometer langen Nehrung. Das ehemalige Fischerdorf mit seinen bunten Holzhäuschen und den geschnitzten Kurenwimpeln ist noch so schmuck und beschaulich wie Anfang der 30er-Jahre, als es noch Nidden hieß und Thomas Mann hier drei Sommer lang den Blick auf das silberne Wasser des Haffs genoss. Nicht ganz so unverändert ist die Dünenlandschaft geblieben, was am Parniddener Berg gut zu beobachten ist. Wer die 170 Stufen hinaufsteigt, genießt einen weiten Rundblick auf die eigentümlich schöne Welt aus Wasser, Wald und Sand. Hell leuchten die weißen Hügel gegen den blauen Himmel. Der Wind malt feine Kräuselmuster in den Sand. Gipskraut, Stranddistel und Bergkiefern quälen sich als haltgebender Bewuchs aus den letzten Wanderdünen der Nehrung. Damit das fragile Gleichgewicht nicht zerstört wird, führen Holzstege über den Sand wie bei Pervalka, wo wir in der Nagliu-Düne wieder einmal Vögeln begegnen. Da kommen sie! Große, dunkle Pfeile mit schnellem Flügelschlag, eine lange Kette, die wie eine endlose schwarze Welle am tiefblauen Himmel wogt. Es sind Kormorane. Die Reisenden stehen in einer Phalanx auf der Düne und schwenken ihre Ferngläser synchron gen Himmel. Kaum ist eine Vogelsensation am Horizont verschwunden, kommt schon die nächste: Wanderfalken! Habicht! Seeadler! Selbst ornithologisch weniger Bewanderte sind schwer beeindruckt vom Schauspiel am Himmel, vom Gesang der Feldlerche und dem Geschrei der Kormorane, deren Kolonie wir bei Schwarzort fassungslos bestaunen: Fast 3000 Paare nisten auf mehreren Etagen in den Bäumen wie in einer Hochhaussiedlung. Die Tage auf der ruhigen, nur von Vögeln belagerten Nehrung sind etwas Besonderes. Auf der Heimfahrt sehen wir die Goldenen Dünen der Nehrung noch einmal – vom Leuchtturm auf der Halbinsel Vente (Windenburg), wo die litauische Vogelwarte besichtigt werden kann und seltene Enten, Reiher und der größte Rabenvogel Europas, der Kolkrabe, auf den feuchten Wiesen des Memeldeltas Futter findet. Vor einem Bauernhaus steht eines der vielen Storchenpaare im Nest und schnäbelt heftig. Wie wenn er uns im Namen aller gefiederten Kollegen Lebewohl sagen wollte, erhebt sich Meister Adebar und gibt unserem Bus das Geleit. Adieu und guten Flug!

Info Veranstalter: Die Reise mit Schwerpunkt Natur - und Vogelbeobachtung veranstaltet Prof. Heinz Sielmann Reisen, Tel. 05 51 / 4 99 93 23, http://www.sielmann-reisen.de (8. bis 16. 10. 2009 und April 2010, rund 1440 Euro inklusive Flug). Rad-, Literatur- und Themenreisen an Kurischer Nehrung und Bernsteinküste bieten auch Mare Baltikum Reisen (http://www.mare-baltikum-reisen.de), Schnieder Reisen (http://www.baltikum24.de).

Heinz Sielmann Stiftung: Der Tierfilmer (1917–2006) wurde durch seine Fernsehserie "Expeditionen ins Tierreich" bekannt. 1994 gründete Sielmann die Stiftung, unter anderem mit dem Ziel, Refugien für Tiere und Pflanzen zu erhalten oder durch Ankauf von Land zu schaffen. Sitz der Stiftung und das Sielmann Erlebniszentrum sind auf Gut Herbigshagen bei Duderstadt (http://www.sielmann-stiftung.de). Naturstudienreisen wie die auf die Kurische Nehrung (s.o.) führen auf den Spuren Sielmanns auch zu Projekten der Stiftung.