Die linke Szene mit gewaltbereiten Gruppen ist aktuell rund um einen Prozess und gegen „Querdenker“ aktiv. Hat sich die Bewegung verändert?
Stuttgart - Tut sich da was im linken Lager in Stuttgart und der Region? Wer das Demonstrationsgeschehen in der Landeshauptstadt in den zurückliegenden Wochen betrachtet, könnte auf die Idee kommen, es sei da ein ganz neues Potenzial. Erst eine Demo im Justizviertel, dann der Gegenprotest gegen die trotz Verbots angerückten „Querdenker“, und nun auch noch Proteste vorm Gerichtssaal in Stammheim. Immer ist ein großes Polizeiaufgebot dabei. Denn: In den Reihen der linken Demonstrierenden, von denen sich viele der Antifa zurechnen, sehen die Sicherheitskräfte auch eine gefährliche Gruppe: die autonome linksextremistische Szene. „Diese ist in hohem Maße gewaltbereit“, sagt Rüdiger Winter, der Chef der Stuttgarter Kripo.
Zur Einordnung liefert das Landesamt für Verfassungsschutz die Zahlen im aktuellen Bericht: Unter den rund 2750 Anhängern der linken Szene im Land seien etwa 850 Personen gewaltbereit. Für die Stuttgarter Region schätzt die Polizei diese Zahl auf „etwa 50 bis 150 Personen“. Man könne da keinen genauen Trennstrich an der Kreisgrenze ziehen, da die Personen sich zu Aktionen zusammenfinden würden, auch über Kreisgrenzen hinweg, erläutert Winter.
Das Publikum ist heterogen
Die Einschätzung der Polizei gilt, wenn sie über Demos spricht, immer nur für den Anteil der Demonstrierenden, die sie dem extremistischen Lager zurechnet. Grundsätzlich sei das Publikum bei Demos des linken Spektrums gemischt – aberdie Gewaltbereitenseien darunter. Sie würden Gewalt als ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele ansehen.
Marius Brenner ist der Sprecher einer Initiative, die aktuell zwei Aktivisten unterstützt, die sich wegen einer Schlägerei am Rande einer „Querdenker“-Demo im Mai 2020 in Bad Cannstatt verantworten müssen. Dabei gerieten linke Aktivisten und mehrere Mitglieder der Arbeitnehmervertretung Zentrum Automobil, die dem rechten Lager zuzurechnen ist, aneinander. Nach dem Angriff lag ein Vertreter von Zentrum Automobil lange Zeit im Koma. „Das war natürlich eine militante Aktion“, sagt Brenner. Aber man dürfe diese nicht ohne den Kontext betrachten: Es gehe darum, rechte Gruppen zu stoppen. „Die organisieren sich auch“, sagt er. Daher müsse man sich notfalls mit Gewalt wehren. „Wenn es gewaltfrei gehen würde, wäre ich dafür. Aber die Erfahrung zeigt: Das reicht nicht aus.“ Die Methoden des Kampfs gegen rechte Gruppen würden auch kontrovers diskutiert in der Szene – aber nur im Kreise derer, die sich an Aktionen beteiligen würden.
Die extremistische Szene ist nicht gewachsen
Die Szene ist nach Einschätzung der Polizei über die Zeit etwa gleich groß geblieben. Offenbar hat sich die Wahrnehmung in Zeiten der Coronakrise etwas geändert. Denn schließlich gehen die linken Gruppen auch gegen die „Querdenker“ auf die Straße, da sie in diesen auch Vertreter rechter Gruppen sehen – was sich am Rand der Demo im vergangenen Mai ja auch bewahrheitet hatte.
Dabei fallen die linken Demonstranten in einer Hinsicht angenehm auf: Sie halten sich an die Hygienevorschriften, die zur Verhinderung von Ansteckungen verhängt werden. Das verwirrt manche Beobachter: „Seit wann sind die denn nun die Guten?“, kommentierte ein Leser einen Bericht unserer Zeitung, in dem stand, dass es bei einer Antifa-Demo keinen Coronaverstöße gegeben habe.
Die linken Demos mit gewaltbereiten Gruppen in ihren Reihen sind folglich nicht mehr geworden, so die Polizei. Die Szene sei etwa gleich geblieben wie in den Jahren zuvor. Es sei jedoch ein Gegner aufgetaucht, an dem man sich reibe – eben die Bewegung der „Querdenker“, die aufgrund ihrer Kontakte in die rechte Szene und zu „Reichsbürgern“ in Baden-Württemberg seit Herbst 2020 schon vom Verfassungsschutz beobachtet werden – seit dieser Woche auch bundesweit.
Für die Polizei sind es zwei klassische Themen, welche die linke Szene aktuell beschäftigen: „Zum einen ist das das Thema Antirepression – die Szene unterstellt der Polizei und der Justiz, sie würde verfolgt“, sagt Winter. Zum anderen ist es das klassische Thema Antifaschismus und Bekämpfung rechter Gruppen, das nun unter anderem bei Gegendemos gegen die „Querdenker“ eine Rolle spiele.