Der linksautonomen Szene im Südwesten ordnen die Behörden 880 gewaltbereite Mitglieder zu. Wo der Verfassungsschutz ihre Schwerpunkte in Baden-Württemberg verortet.
Stuttgart - Es sind Sätze wie Hammerschläge: Wer ernst nehme, dass der antifaschistische Kampf Teil einer „freien und solidarischen Gesellschaft“ sei, müsse auch anerkennen, „dass die gewalttätige Gegenwehr ein wichtiger Teil des Antifaschismus ist“. Weil die Verfasser des Internetdokuments „Zur Frage antifaschistischer Gewalt“ keine „Sadist*innen und nicht gleichgültig gegenüber dem Leid Anderer“ seien, versuchten sie „nur soweit zu gehen, wie wir es in der jeweiligen Situation für angebracht halten“.
Verfasst hat das Dokument die Antifa Baden-Württemberg und es am 27. Mai auf der Plattform indymedia.org veröffentlicht. 880 Personen stuft das Landesamt für Verfassungsschutz derzeit in der autonomen Szene Baden-Württembergs als gewaltorientiert ein. Darunter, versteht der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages „eine Vielzahl von Organisationen und Strömungen, die sich mit unterschiedlichen Interpretationen an kommunistische und anarchistische Vordenker und deren Konzepte anlehnen“. Ihr Ziel sei eine „Veränderung des gesellschaftlichen und politischen Systems hin zu einer ‚sozialkommunistischen’ Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsordnung“. Ein Teil dieser Szene verbreite seine Ideen und Ideologie unter dem Oberbegriff „Antifa“, der Abkürzung für „Antifaschistische Aktion“.
Im Bereich der politisch und religiös motivierten Gewaltdelikte registrierten Polizei und Staatsanwaltschaften 2019 insgesamt 316 Taten. 134 davon rechneten sie dem Bereich „ausländische Ideologie“ zu, zu denen etwa kurdische und türkische Organisationen zählen. 113 werden dem links- , 40 dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet. 23 Gewalttaten konnten die Ermittler nicht konkret zuordnen, sechs waren religiös motiviert.
Das Landesamt für Verfassungsschutz analysiert die Szene in Baden-Württemberg regelmäßig und schlüsselt die Daten nach den vier Regierungsbezirken auf.
Regierungsbezirk Stuttgart
Regierungsbezirk Stuttgart
Etwa 300 Personen ordnen die Inlandsgeheimen der gewaltorientierten Szene zu. Sie hätten sich lose in 20 autonomen, antiimperialistischen und anarchischen Gruppen zusammengefunden. Im Fokus stehen Gruppen wie „Zusammen kämpfen Stuttgart“, deren Führungspersonen nach Einschätzung der Verfassungsschützer „der Ideologie der ehemaligen ‚Rote Armee Fraktion’ nahestehen“. Je nachdem wie sich die politische und militärische Lage in Nordsyrien sowie in der Türkei entwickele, gewännen Gruppen wie die „Initiative Kurdistan-Solidarität Stuttgart“ an Bedeutung. Die Gruppe war im April 2016 maßgeblich daran beteiligt, dass eine Demonstration rund um den Stuttgarter Schillerplatz so eskalierte, dass am Ende 52 Polizisten zu Teil schwer verletzt wurden. Zudem gebe es zahlreiche Verbindungen linksradikaler Stuttgarter Gruppen nach Ludwigsburg, in den Rems-Murr-Kreis sowie nach Herrenberg, Tübingen, Heilbronn und Ostwürttemberg .
Regierungsbezirk Tübingen
Regierungsbezirk Tübingen
Etwa 90 Personen rechnet der Verfassungsschutz hier zehn gewaltorientierten autonomen und anarchistischen Gruppen zu. Einige von ihnen, wie die „Alb Offensive“ im Zolleralbkreis oder das „Offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus für Tübingen und die Region“ verstünden sich als „antifaschistische Gruppen“, die außer Vortragsveranstaltungen auch Proteste gegen Rechtsextreme planten und organisierten. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kommt zu dem Ergebnis, dass kein „einheitliches Handeln oder ein in sich geschlossenes, politisch-ideologisch geschlossenes Konzept dieser Szene unterstellt werden“ könne. Im Gegenteil kennzeichne „Sprunghaftigkeit und Kampagnenorientierung“ die Antifa in Deutschland.
Regierungsbezirk Karlsruhe
Regierungsbezirk Karlsruhe
320 Personen sind laut der Analyse des Verfassungsschutzes hier etwa 25 gewaltorientierten Gruppen zuzurechnen. Zeitweise verfügten Gruppierungen wie „Offene Antifa Treffen Karlsruhe“ oder „Interventionistische Linke Karlsruhe“ über die Schlüsselgewalt beim linken Stadtteilladen „Barrio 137“, der als Anlaufstelle der Szene diene. Für seinen Betrieb ist die „Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken“ zuständig. Die Organisation sieht sich der SPD nahe, ist aber für eine Mitgliedschaft aller Menschen offen. Sie erlaubt den Beitritt auch zu anderen Parteien neben den Sozialdemokraten. Allerdings wird seit 2011 die Verbindung zur SPD besonders hervorgehoben. Kinder können ihr ab dem sechsten Lebensjahr beitreten und aktiv an Wahlen teilnehmen.
Regierungsbezirk Freiburg
Regierungsbezirk Freiburg
170 Personen in 13 gewaltorientierten Gruppen zählen Verfassungsschützer hier. „Neben Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe und Stuttgart bildet der Großraum Freiburg einen Schwerpunktbereich linksextremistischer autonomer Aktivitäten im Land“, schreiben sie. Die Gruppe „Die WG – Wohnraum gestalten Freiburg“ formierte sich aus der Szene der seit Dezember 2018 anhaltenden Hausbesetzungen. Zudem hätten sich Gruppen wie die „adelante! Linkes Zentrum Freiburg“ die „Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer sozialistischen Gesellschaft und Bekämpfung des in Deutschland ‚allgegenwärtigen Faschismus’“ zum Ziel gesetzt, berichten die Verfassungsschützer. Außer in Freiburg habe sich in den vergangenen Jahren auch in Villingen-Schwenningen eine „aktive gewaltorientierte linksextremistische Szene etabliert“. Bei ihr seien die stabilen Beziehungen zur Stuttgarter und Tübinger Szene auffällig, während es kaum Kontakte ins näher gelegene Freiburg gebe.