Gregor Gysi zieht sich aus der Parteiführung zurück. Foto: dpa

Gregor Gysi gehört seit einem Vierteljahrhundert zu den prägenden Figuren der deutschen Politik. Jetzt verkündet der dienstälteste Fraktionschef des Bundestags seinen Abschied.

Bielefeld - Er liebt die Inszenierung. Gregor Gysi hat den letzten Knalleffekt lange vorbereitet. Anspielungen, raunende Interviews: Und so dominiert das Warten auf diesem linken Parteitag. Einen langen, tristen Sommersamstag lang quälen sich die Delegierten durch Leitanträge, Änderungsanträge und Positionspapiere. Aber das, was alle tatsächlich interessiert, wird vor dem Saal diskutiert: Geht er? Bleibt er?

Erst am Sonntag, am Ende seiner Rede, lichtet sich der Nebel. Schon im ersten Satz fällt die Entscheidung: „Liebe Genossinnen und Genossen, heute spreche ich zum letzten Mal als Fraktionsvorsitzender zu Ihnen.“ Es ist mucksmäuschenstill. Es ist ein historischer Schnitt, das fühlt jeder. Beifall brandet auf, als er ankündigt, sein Bundestagsmandat weiter ausüben zu wollen. Eine erneute Kandidatur 2017 lässt er offen.

Es folgt eine Rede, die Rückblick und Vermächtnis ist. „Geliebt, gehasst, angebetet“ sei er worden, unter beidem habe er gelitten. Er erinnert an den Hass, der ihm im Bundestag entgegenschlug. Aber er dankt auch der FDP, die als einzige andere Fraktion darauf bestand, dass eine IM-Tätigkeit Gysis zu DDR-Zeiten nicht erwiesen sei. Er würdigt den Ehrenvorsitzenden Hans Modrow, dankt Mitarbeitern, Fahrern und Helfern. Die Stimme zittert nicht nur ein Mal.

Es ist zu spüren, was jedem Delegierten so durch den Kopf geht: Vieles hat Gysi erreicht. Manches nicht. Er hat seiner Partei, die auf so viel Vorbehalt im Westen gestoßen war, ein Gesicht, einen Kopf gegeben. Einen Charakter. Auch das. Gysi war kein bierernster Ideologie-Verwalter, sondern ein schillernder, zu Ironie und Selbstironie fähiger Intellektueller – gewandt in Talkshow und im Bundestag, wo er zum wortgewaltigen Widerpart der jeweiligen Bundesregierung aufstieg. Er hat sich Respekt erarbeitet.

Aber ein Gescheiterter ist er auch. Die dauerstreitenden Teile seiner Partei hat er nicht einen können. Die besserwissenden Alt- und Dauerlinken aus dem Westen gegen die Beton-Genossen aus ostigen Urzeiten. Reformer, die auf parlamentarische Bündnisse setzen gegen Fundamental-Oppositionelle, die keine Kompromisse schließen wollen und gegen die Parlamente die Macht der Straße in Stellung bringen wollen.

Es ist dieser Konflikt, der Gysi leiden lässt. Denn seinen großen Traum wird er sich wohl nicht erfüllen können: die Beteiligung an einer Bundesregierung scheint auch 2015 (fast) so undenkbar wie zur unmittelbaren Nach-Wendezeit. Was nicht an der Schwäche von SPD und Grünen liegt, den möglichen Partnern. Gysis größter Traum zerschellt am Trotz der eigenen Partei.

Das wird in Bielefeld wieder deutlich. Gysi mag darin eine bitterböse Ironie erkennen. Die Linken haben gerade in Hamburg und Bremen erstaunliche Wahlerfolge eingefahren. In Thüringen stellen sie mit Bodo Ramelow erstmals den Ministerpräsidenten. Es läuft eigentlich alles wie auf Schienen in Richtung eines weiteren Hineinwachsens in regierendes Mitgestalten. Eigentlich. Denn die Partei will sich nicht überdehnen lassen. Einen Tag lang hatten die Delegierten den Parteitag in eine revolutionäre Wärmestube verwandelt, in der die Gesetze des Marktes nicht gelten und der Sozialismus aus Papierbergen neu und wohlig aufsteigt. Der Parteitag leistet sich eine lange Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen von mehr als 1000 Euro für jeden Erwachsenen. Das ist keine Spielwiese für Parteisektierer. Es wird selbst von der Co-Parteichefin Katja Kipping vertreten.

Das passt Gysi nicht. Und so schreibt er seiner Partei Grundsätzliches ins Stammbuch. Sie brauche „ein zutiefst kritisches Verhältnis zum Staatssozialismus“. Die Linke sei auch Partei der kleinen und mittleren Unternehmer, auch ihre Interessen müsse sie vertreten. Und auch das sagt er: Die Linke müsse – man höre! – „eine Partei des Erlaubens sein, aber nicht eine Partei des Verbietens“ werden. Er will eine Partei, die gestalten soll. Die Linke sei eine „10-Prozent-Partei, keine 50 Prozent-Partei“. Sie müsse Kompromisse machen. Sie habe mit ihrer Integration ins geeinte Deutschland das Land normalisiert. Nun müsse sie sich selbst normalisieren. „Wir können und sollten auch im Bund mit regieren wollen – selbstbewusst und ohne falsche Zugeständnisse.“

Zuletzt eine tränenerstickte Entschuldigung an Freunden und Familien, denen er zu wenig Zeit gewidmet habe: „Es tut mir sehr, sehr leid.“ Ein schlichtes Danke. Endlose Ovationen. Sie übertönen alle Probleme.