Salome Kammer Foto: Rainer Pfisterer

Die Frage, wie frei Musik sein kann, wenn sie sich auf einen Text bezieht, wurde bei der Oper schon häufig und heftig diskutiert. Jetzt ist die Diskussion aus beim Kunstlied angekommen. „Sind noch Lieder zu singen?“, fragte am Wochenende ein Festival in Stuttgart.

Stuttgart - Erst der Sänger, dann der Pianist. Nacheinander betreten beide Künstler die Bühne; der Sänger positioniert sich etwa mittig vor dem geschwungenen Klangkörper des Flügels, legt seine rechte Hand auf das polierte Lieblingsmöbelstück des musizierenden Bürgertums, blickt kurz zu seinem Begleiter. Dann hört man, wie ein Komponist ein Gedicht interpretiert, dessen Text man aber nicht immer verstehen kann. Lied-Kunst ist eine schwierige Kunst: eine komprimierte Miniatur, anspruchsvoll für Produzenten wie für Rezipienten und dementsprechend gerne als Nischen-Kunst abgeurteilt.

Seitdem Franz Schubert im 18. Jahrhundert auf eindrucksvolle Weise Lyrik seiner Zeitgenossen musikalisch deutete und dekorierte, ist das Kunstlied eine Form, an der sich Komponisten abarbeiten. Im 20. Jahrhundert haben diese allerdings gegen die Versklavung ihrer Kunst durch das Wort zu meutern begonnen, haben gegen den romantischen Gefühlsballast des Liedes ebenso revoltiert wie gegen die strenge Rollenverteilung zwischen Sänger und Begleiter.

Seither hat die Szene Einzug gehalten auf der Bühne. Das Klavier hat zu singen begonnen, die Sänger zu spielen und zu begleiten, das frühere Miteinander ist zum Nebeneinander geworden, Texte wurden in Silben und Buchstaben zerstückelt, um auch aus ihnen Musik machen zu können, und ganze Ensembles haben die Stelle des Klaviers eingenommen. Im Zuge der rückwärtsgewandteren musikalischen Moden der Postmoderne haben aber manche Komponisten ins Gewand des 19. Jahrhunderts auch einfach nur ein paar neue, schillernde Fäden eingewoben. Viel Skepsis ist geblieben – auch bei kundigen Beobachtern der Szene. „Ich bezweifle“, sagte jetzt etwa Stuttgarts Professor für Musikwissenschaft, Andreas Meyer, „dass vom Lied im heutigen Musikleben noch wesentliche Impulse gesetzt werden.“ Die Podiumsdiskussion, an der er am Samstagnachmittag teilnahm, gelangte allerdings ebenso wenig zu eindeutigen Ergebnissen wie die vier Konzerte, mit denen die Internationale Hugo-Wolf-Akademie am Wochenende in der Stuttgarter Musikhochschule die Zukunftsfähigkeit der Liedkunst untersuchen wollte.

Dafür ist das Feld zu weit, und der Blick auf die unterschiedlichen ästhetischen Entwicklungen der neueren Musik und speziell des Liedes im Westen und im Osten Deutschlands nach 1945 weitet das Thema des Festival mit dem sprechenden, von Paul Celan entliehenen Titel „Sind noch Lieder zu singen?“ zusätzlich. Auch wenn von dem Abgrund zwischen serieller Avantgarde hier und sozialistischem Realismus dort von den 70er Jahren an nicht mehr viel zu spüren ist: Zunehmend werden die Stile individueller, und entsprechend schwierig ist es, die Werke den politischen Systemen zuzuordnen, in deren Einflussbereich sie entstanden.

Interessante, hierzulande kaum bekannte Namen und Lieder gab es da zu entdecken: Der Bariton Holger Falk sang, am Klavier begleitet von Steffen Schleiermacher, Rainer Bredemeyers drei komprimierte Lieder auf spitzzüngige Gedichte von Werner Söllner mit schönen Sätzen wie diesem: „Der Sinn der Wörter ist die Haut,/Die langsam auseinanderfällt.“ Max Buttings „Fluch“ arbeitet sich auf sehr eigene Weise zwischen Schubert und Arbeiterkampflied ab, und mit Axel Bauni an der Seite machte die Sopranistin Claudia Barainsky aus Georg Katzers „Hymnus“ feinste Ausdruckspoesie. Auf der anderen, der westlichen Seite halten Komponisten wie Aribert Reimann, Hans-Werner-Henze, Wolfgang Rihm, Maurizio Kagel, Boris Blacher, Paul Hindemith oder Wilhelm Killmayer dagegen. Auch ihre Lieder leben von der hohen Qualität der Darbietungen: Das Festival der Hugo-Wolf-Akademie ist auch ein Fest der Lied-Interpreten.

Bei den zwölf Uraufführungen begegnen den Zuhörern erwartungsgemäß mehr Fragen als Antworten. Dazu gehört auch, dass eine Komponistin wie Carola Bauckholdt, Jahrgang 1959 („In Köln singt man immer Humba, humba, täterä – besser kommen Text und Musik nirgends zusammen“) in „Membran“ die Sängerin und Stimmkünstlerin Salome Kammer unter dem Flügel positioniert. Auch Iris ter Schiphorsts „Meine-Keine Lieder“ sind vor allem Suche und Experiment. Salome Kammer rezitiert Hannah Arendt und die Lyrikerin Inge Müller, der Klarinettist Sebastian Manz und die Pianistin Akiko Okabe singen und parodieren und outen sich zwischendurch plump: „Wir sind Experten der Gefühlsreproduktion!“

Poetische Räume weiten wollen Steffen Schleiermachers bildreiche Vertonungen von expressionistischen Gedichten Wilhelm Klemms. Auf freundlichere Weise ironisch ist Oscar Strasnoy, dessen „Müller-Liederkreis“ auf Texte von Wilhelm, Heiner und Hertha Müller auch durch rege Mitwirkung des wundersam wandelbaren Tenors Matthias Klink in eine lustvolle Zerstörung Müllerscher Volkslied-Wanderlust mündet.

Dass die Ringelnatz-Vertonungen des jTrojahn- und Rihm-Schülers Jan Masanetz trotz ihrer starken Traditionsverhaftung teilweise zutiefst berühren, ist vor allem der Text-Vertiefung, den Klangfarben und der Legato-Kultur Holger Falks zu danken. Salome Kammer gelingt ähnlich Zwingendes bei Martin Smolkas melancholisch-meditativem „Lipolied“. Hier gibt es zwischen Klavier und Stimme wie zwischen Text und Musik keine Hierarchien mehr: eine Lösung, die deutlich zwingender wirkt als die Idee Bernhard Langs, der in seinem „Songbook II“ Musik und Text bis zur totalen Gähnlangeweile zerstückelt und in die für ihn typischen Wiederholungsschleifen hineintreibt.

Wer sich durch die bunte Vielfalt hindurchgehört hat, kann die Frage im Titel der Veranstaltung dennoch nur mit einem klarer Ja beantworten. Denn ganz gleich, ob das Wort nun Inspirationsquelle oder Sklaventreiber der Musik ist, ganz gleich auch, ob die Gattung eher dekonstruiert oder nachromantisch reproduziert wird: Der Zusammenprall zweier Künste schlägt von ganz alleine so viele Funken, dass die Erleuchtung der Bühne durch zehn wechselfarbige Lichtsäulen wirklich nicht nötig gewesen wäre.