Protest kurz vor dem Urteilsspruch in Washington. Foto: dpa/Jacquelyn Martin

Was sich seit Wochen abzeichnet, ist nun Realität: Die konservative Mehrheit am obersten Gerichtshof der USA verwirft das seit 1973 geltende liberale Abtreibungsrecht in den USA. Vor dem Gerichtsgebäude gibt es Proteste, US-Präsident Joe Biden plant gesetzliche Regelungen.

Es ist eine Zäsur in der jüngeren Geschichte der USA: Das bundesweit geltende Recht, bis zur 24. Schwangerschaftswoche legal abtreiben zu können, ist vom Supreme Court gekippt worden. Das liberale Abtreibungsrecht galt seit einem Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ im Jahr 1973. Nun kann jeder Bundesstaat eine eigene Regelung erlassen – bis hin zu einem vollständigen Abtreibungsverbot.

Bei der jetzigen Entscheidung ging es um ein Gesetz im Bundesstaat Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Woche verbietet. Mit Blick auf das fast 50 Jahre gültige Grundsatzurteil hatten untere Instanzen die Inkraftsetzung zunächst verhindert. Nun haben 6 der 9 US-Richter das Gesetz bestätigt – und gleichzeitig das Urteil von 1973 für die ganzen USA außer Kraft gesetzt.

Die Reaktionen fallen dementsprechend aus. Noch am Freitagnachmittag gab es Demonstrationen von Frauenrechtlern und liberalen Gruppen vor dem Supreme Court. „Es ist herzzerbrechend, ein Betrug an der Hälfte des Landes“, sagte die frühere Generalstaatsanwältin Jennifer Rodgers dem US-Sender CNN, die sich unter die Demonstranten gemischt hatte. In Umfragen gab es in der Vergangenheit stets klare Mehrheiten für das liberale Abtreibungsrecht.

US-Bischofskonferenz begrüßt das Urteil

Für die Republikaner und vor allem für konservative, evangelikale Christen ist das Urteil des Supreme Courts hingegen ein Freudentag – fast 45 Jahre haben sie auf diesen Tag hingearbeitet. „Der Supreme Court hat eine der bedeutendsten Entscheidungen in meinem Leben getroffen“, sagt der evangelikale Pastor Franklin Graham dem Sender Fox News. Die Kommentatorin Marjorie Dannenfelser erklärte ebenfalls auf Fox: „Der 24. Juni markiert einen Sieg für das ungeborene Leben und deren Mütter.“ Auch die katholische US-Bischofskonferenz begrüßte das Urteil und sprach von einem „historischen Tag im Leben unseres Landes“.

Die Strategie der Pro-Life-Aktivisten ist aufgegangen, durch den Einfluss auf die Ernennung von konservativen Richtern am obersten Gerichtshof die ihnen verhasste Entscheidung von 1973 zu revidieren. Dies war möglich, weil US-Präsident Donald Trump in seiner Amtszeit von 2016 bis 2020 drei Richterstellen zu besetzen hatte – und mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh, Amy Coney Barret drei junge, ausgesprochen konservativ denkende Juristen entsandt hatte.

Die Entscheidung war schon seit Anfang Mai erwartet worden – denn ein Urteilsentwurf war an die Öffentlichkeit gelangt. Der Richterspruch lehnt sich eng an diesen an. „Die Verfassung bezieht sich nicht auf Abtreibung, und kein solches Recht wird implizit durch eine Verfassungsbestimmung geschützt“, heißt es in der Begründung. Damit wird die buchstabengetreue Auslegung der US-Verfassung von 1787 verfolgt, die von konservativen US-Juristen propagiert wird.

Ken Paxton will Abtreibungen verbieten

Wie geht es nun weiter? Nachdem es keine bundesweite Regelung mehr gibt, wird jeder Bundesstaat eigene Gesetze erlassen. So hat die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James bereits angekündigt: „New York wird immer ein sicherer Hafen für jeden sein, der eine Abtreibung anstrebt.“

Ihr texanischer Amtskollege Ken Paxton hat den 24. Juni in seinem Bundesstaat zum Feiertag erklärt „zu Ehren der fast 70 Millionen ungeborenen Babys, die seit 1973 im Mutterleib getötet wurden“. Zudem hat er angekündigt, Abtreibung verbieten zu wollen. Der Bundesstaat Missouri hat das Verbot bereits erlassen. Das Guttmacher-Institute in Washington rechnet damit, dass bis zu 26 Staaten ähnlich vorgehen werden.

Der US-Präsident Joe Biden hat im Weißen Haus bereits Initiativen vorbereitet, um Frauen die Abtreibung weiterhin zu garantieren. So erließ er eine Exekutivanordnung, um den Zugang zu Abtreibungspillen zu garantieren. Oder um Ärzte vor Verfolgung zu schützen. Auch Planned Parenthood, der größte Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA, erklärte: „Wir werden den Kampf niemals aufgeben.“ Die Organisation Planned Parenthood hatte das zweite Grundsatzurteil im Jahr 1992 erwirkt.

Erwartet wird nun eine weitere Polarisierung der politischen Auseinandersetzung – vor allem im Hinblick auf die Zwischenwahlen zum Kongress. Die demokratische Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, fand scharfe Worte: „Das ist ein Schlag ins Gesicht für Frauen.“ Bei den Kongresswahlen im November stehe „das Recht der Frauen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, auf dem Wahlzettel“.