Der chinesische Schriftsteller und Straßenmusiker Liao Yiwu Foto: privat

Der eindrucksvolle Auftritt des chinesischen Autos Liao Yiwu in Stuttgart.

Stuttgart - Zu seinen "vier Lehrmeistern" zählt der chinesische Schriftsteller und Straßenmusiker Liao Yiwu (52) aus Sichuan den "Hunger", die "Schande", die "Obdachlosigkeit" und das "Gefängnis". Nun sitzt der kostbare Mann im Stuttgarter Literaturhaus, belauscht von Mithörern mit Sonnenbrillen, die aus der Wand beim Podium gewachsen sind: eine Kunstinstallation.

Nach 15 Anläufen durfte Liao Yiwu aus China ausreisen. Eingeladen wurde er vom Internationalen Literaturfestival Berlin. Während seines sechswöchigen Stipendiums ist der Schriftsteller Gast in der Autorenresidenz LiteraturRaum im Hotel Bleibtreu in Berlin.

Neben Liao Yiwu, jungenhaftes Gesicht, rasierter Schädel, Charakterkopf, die Übersetzerin Jing Moell, der Gründer und Organisator des Berliner Literaturfestivals Ulrich Schreiber, Gerd Ritter vom Jungen Ensemble Stuttgart. Wasser und Wein. Das Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser", 2009 im Verlag S.Fischer, Frankfurt, erschienen, machte Liao Yiwu bekannt. Es enthält 29 von mehr als 300 Interviews mit Menschen vom Rand der Gesellschaft, mit denen, die in China keine Stimme haben, weil es sie offiziell gar nicht gibt. Gerd Ritter liest die Geschichte vom "Ausbrecherkönig" - um sich aber ein Bild vom Unvorstellbaren machen zu können, sollte man das ganze Buch lesen. Es macht sprachlos.

Zwischen Traum und Realität

Liao Yiwu war ein angesehener Dichter in seinem Land, inspiriert von Charles Baudelaire, Walt Whitman, Pablo Neruda. 1989 veröffentlichte er sein episches Gedicht "Massaker" über die blutigen Vorkommnisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Vier Jahre saß er im Gefängnis. In der Haft "musste ich mir die Geschichten der Gefangenen anhören, ich wurde dazu gezwungen, sie aufzuschreiben". Ulrich Schreiber stellt die Frage nach der Methode zur Aufbewahrung der Geschichten, ohne den Luxus von Papier, Schreibgerät, mit nur einer monatlichen Ration Briefpapier. Viele Male, sagt der Autor, hörte er die Geschichten der Häftlinge. "Ich bin ein Videorekorder geworden. Sie haben mir ihr Gedächtnis übertragen, das habe ich durch meinen Gefängnisaufenthalt gelernt. Ich bin einer von denen. Ich empfinde eine gewisse Liebe für sie, ohne sie kann ich nicht schreiben." Ob buddhistische Weisheit oder Erkenntnis jenseits aller ideologischen Differenzen: Die Gesellschaft, diese Welt, sagt Liao Yiwu, ist ein großes Gefängnis mit vielen kleinen Gefängnissen. Der Unterschied zwischen den Gefängnissen ist: Im großen Gefängnis darf man trinken. Manchmal kommen Interviews beim Trinken zustande, "zwischen Traum und Realität".

Für Beifall bedankt sich Liao Yiwu mit einer Verbeugung des Oberkörpers bis auf Kniehöhe. Er spielt auf einem Daumenzupfinstrument, mit einer Klangschale. Ob er singt oder eines seiner Gedichte rezitiert, in denen er Gott herausfordert als ein Prometheus des 21. Jahrhunderts, es hat eine Intensität, die aus dem Leben kommt, nicht aus der Kunst.

Das Spiel auf der Flöte hat Liao Yiwu sich im Gefängnis beigebracht. Die Erfahrungen seines Lebens fließen ein in die keuchenden Atemgeräusche des Instruments. Nicht der reine, schöne Ton: Der wahrhaftige Ton ist es, eher dem Free Jazz, der Neuen Musik nah als der klassischen Musik des Bürgertums.

Liao Yiwu antwortet höflich und bescheiden. Welche Antworten er gibt, welche Fragen er unbeantwortet lässt? Die Manier des Moderators Schreiber, vegetativ wuchernde Fragen zu stellen, sorgt auf beiden Seiten für heitere Momente. Besser, als liefe alles glatt. Zeigt es doch, welcher Anstrengungen es bedarf, sprachliche, gedankliche und andere Grenzen zu überwinden.