Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle gilt als treibende Kraft der Firmenehe. Foto: dpa

Ein 139 Jahre alter Traditionskonzern wandert in die USA ab. Es hagelt Kritik, denn ein Teil der Aktionäre, die aus dem Unternehmen gedrängt werden, will sich damit nicht abfinden.

München - Es war die wehmütige Abschiedsvorstellung eines Stücks deutscher Industriegeschichte. „Eine Ära geht zu Ende“, brachte es gleich die erste Rednerin der außerordentlichen Hauptversammlung des Münchner Industriegaseherstellers Linde auf den Punkt. Trauer und Wut habe sie unter den Miteignern verspürt, meinte die Vertreterin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Daniela Bergdolt, zu den einigen Hundert widerspenstigen Aktionären der alten Linde AG. Die wird nun in einer neuen Linde Plc britischen Rechts aufgehen und von den USA aus industriell geführt. Acht Prozent Linde-Alteigner wollten das bis zuletzt nicht. Sie werden nun zwangsweise mit gut 189 Euro je Aktie abgefunden und aus dem Unternehmen gedrängt, was offizieller Anlass des Eignertreffens in München war.

Kritik an der „One-Man-Show“

Ursprünglich sei sie sogar eine Befürworterin der Fusion von Linde mit dem US-Rivalen Praxair gewesen, bekannte die DSW-Aktionärsschützerin. Weil Kartellbehörden dafür aber den Verkauf von Firmenteilen mit einem Umsatz von über 3,7 Milliarden Euro verlangt haben und so eine vom Management eigentlich festgelegte Schmerzgrenze gerissen wurde, sei das jetzt anders. „Strategischen Sinn macht die Fusion jedenfalls nicht mehr“, sagte sie. Linde habe etwas Besseres verdient als einen solchen Abschied. Unter Wert verkauft worden sei der Konzern, meinte ein anderer Aktionärsschützer. Die neue Linde werde nun zudem amerikanisch geprägt. Denn geführt wird der zum weltgrößten Hersteller von Industriegasen fusionierte Konzern von Praxair-Chef Steve Angel sowie seiner rechten Hand Matthew White vom bestehenden Praxair-Firmensitz in den USA aus. Was vom deutschen Traditionsunternehmen bleibt, ist wenig mehr als der Name Linde. Zu verdanken sei das einer „One-Man-Show“, kritisierte die DSW-Vertreterin unter dem Beifall von Aktionären. Gemeint war damit Linde-Aufsichtsratschef Wolfgang Reitzle, der als treibende Kraft hinter der Firmenehe gilt. Der 69-Jährige ließ jede Kritik von sich abperlen. In der fusionierten neuen Linde hat er sich den Posten des Verwaltungsratschefs gesichert.

Etwa 70 000 Beschäftigte und 24 Milliarden Euro Umsatz dürfte der von ihm geschmiedete Weltmarktführer bei Industriegasen am Ende haben, wenn alle Verkaufsauflagen bis Ende Januar 2019 erfüllt sind. Rund zwei Drittel davon stammen von der alten Linde. Der Umstand, dass trotz dieser Größenverhältnisse die Führung in die USA abwandert, hat viele Kritiker auf den Plan gerufen. Aber ebenso wenig wie Aktionäre konnten auch Beschäftigte die Firmenehe verhindern.

Gewerkschaften fürchten um Jobs

In den Augen der IG Metall ist sie gar eine feindliche Übernahme. Wie die IG BCE als zweite bei Linde aktive Gewerkschaft fürchtet sie um Stellen und deutsche Mitbestimmungsrechte, obwohl Jobs und Standorte bis Ende 2021 garantiert sind. Über einen Verkauf des Linde-Anlagenbaus hat Praxair-Finanzchef White, der diesen Posten auch im fusionierten Konzern innehat, schon einmal vernehmbar sinniert. Für Gewerkschafter sind zudem die von Kartellämtern zur Fusion verhängten Auflagen ein zu hoher Preis. „Es tritt ein, wovor wir seit Beginn der Fusionsgespräche gewarnt haben“, kritisierte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann zuletzt. „Dieser Zusammenschluss rechnet sich nicht, weder für Aktionäre noch für die Beschäftigten, noch für den Industriestandort Deutschland“, assistiert IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis. Selbst Linde-Manager hatten gegen das Verschmelzen beider Konzerne votiert. Sie mussten gehen. Als Linde-Chef auf Zeit aus dem Ruhestand reaktiviert wurde deshalb der 68-jährige Aldo Belloni, ein treuer Gefolgsmann Reitzles. Bellonis einzige Aufgabe war es, die Fusion zu managen. Spätestens im Januar tritt er ab. Als Garant deutscher Interessen fungiert dann Verwaltungsratschef Reitzle, den so mancher als Verräter ebendieser ansieht. Der Ex-Automanager war zwischen 2003 und 2014 selbst Linde-Chef. Ein erster Anlauf zur Fusion mit Praxair war 2016 noch gescheitert. Jetzt ist der gebürtige Neu-Ulmer mit dem großen Ego am Ziel.