Margarete Böttiger, Jahrgang 1897, wuchs in großer Armut auf. Als 30-Jährige kauft sie sich einen Turm, der 64 Jahre lang ihr Zuhause ist – und hinterlässt nach ihrem Tod Hunderttausende D-Mark.
Am 19. Mai 1897 trifft Margaretes Mutter bereits zum zweiten Mal etwas, das in dieser Zeit als Schande angesehen wird: die Geburt eines unehelichen Kindes. Wer Margaretes Vater ist, wird nie bekannt, die Vormundschaft übernimmt ihr Großonkel. Da ihre Mutter als Dienstmagd auf Bauernhöfen um Creglingen herum arbeitet, dort auch wohnt, lebt Margarete bei ihrem Großonkel und seiner Familie. Hunger, Armut, Kälte bestimmten den Alltag. Das wahre Ausmaß verrät die Nachlassakte ihres Großonkels: ein kaputtes Bett, alte Kleider, Unrat – das war’s.
Das Elend der Familie zwingt auch Margarete dazu, von klein auf mitzuarbeiten. Als ältere Frau erinnerte sie sich noch daran, wie müde sie dann manchmal im Schulunterricht gewesen sei. Bedenkt man die Strenge der damaligen Lehrer, kann man sich vage vorstellen, wie schwer es das Kind hatte.
Falls Margarete Hoffnungen hatte, dass es nur noch besser werden könne, dürfte das Jahr 1911 sie eines Besseren belehrt haben. Ihre Mutter erleidet einen Unfall, verliert dabei ihren Daumen und muss hinnehmen, dass ihre Hand vollständig versteift. Letztendlich wird sie dadurch nahezu arbeitsunfähig und ist gänzlich auf die Unterstützung ihrer beiden Töchter angewiesen. Für Margarete heißt das: Von nun an wird ihr Leben in den kommenden Jahrzehnten nur noch aus harter Arbeit bestehen, und sie darf sich selbst für keine Tätigkeit zu schade sein.
Mutter und Tochter sind verzweifelt
Mit ihren 14 Jahren muss Margarete sich ebenfalls als Tagelöhnerin und Dienstmagd auf Bauernhöfen rund um Creglingen verdingen und zu fremden Menschen ziehen – so war es damals üblich. Die Verzweiflung und Ängste von Mutter und Tochter im Jahr 1911 kann man nur erahnen. Ob Margarete sich womöglich zu diesem Zeitpunkt selbst versprochen hatte, nie mehr arm zu sein?
Dass sie sich genau das geschworen hatte, daran erinnerte sie sich noch im hohen Alter. Daher hatte sie ihren aktuellen Kontostand stets gut sichtbar in ihrem Lindleinturm an die Wand geheftet und jede Stelle angenommen, bei der sie Geld verdienen konnte: Tagelöhnerin, Waldarbeiterin, Putzfrau. Bis zu ihrem 77. Lebensjahr ging sie bei der Creglinger Getreideverkaufsgenossenschaft putzen, im Winter musste sie dort um vier Uhr morgens die Öfen anheizen, damit das Personal um sieben warme Räume vorfand. Zahlte ein Arbeitgeber nicht, erschien sie nicht mehr zur Arbeit. Auch dann nicht, wenn die Drohung kam, es der Kreisleitung der NSDAP zu melden, wie es Mitte der 1930er Jahre einmal der Fall gewesen war.
Dass sie tatsächlich finanziell abgesichert war, erfuhren die meisten erst nach ihrem Tod. Mehr noch: Es dürfte viele überrascht haben, zu erfahren, dass Margarete Böttiger regelrecht wohlhabend gewesen war. 325 000 D-Mark befanden sich nach ihrem Tod auf ihrem Konto. Paradox, wenn man überlegt, dass sie ihr Leben lang für alle sichtbar in Armut gelebt hatte, sich selbst zu Mittagessen eingeladen hatte, von anderen Sach- und Geldgeschenke bekommen hatte.
Während des Ersten Weltkrieges schuftet sie sieben Tage in der Woche in einer Mühle. Wenigstens lässt die Müllerin das 18-jährige Mädchen am Tag des Herren in der Küche arbeiten, wo sie Kochen lernt. Ein Handwerk, das ihr 1924 den Weg in die gutbürgerlichen, teils vornehmen Häuser in Mannheim und Stuttgart ebnet.
Damit beginnt auch ein neues Leben für die junge Frau. Die Anstellung als Dienstmädchen in der Stadt steht nämlich in keinem Verhältnis zu der Schufterei auf dem Land. Wie anders das Leben in der Stadt der Nachkriegsjahre ist, machen die teuren Geschenke, wie Seife, Schokolade und Kaffee deutlich, die sie ihrer Mutter in dieser Zeit macht – und die gesamte Creglinger Verwandtschaft schaut mit Bewunderung auf Margaretes gute Stelle. Alle raten ihr, in der Stadt zu bleiben, denn was hat die junge Frau schon in Creglingen zu erwarten außer Plackerei in der Landwirtschaft?
Wäre Margaretes Verhältnis zu ihrer Mutter nicht so eng gewesen, womöglich wäre sie tatsächlich dauerhaft in der Stadt geblieben, wo sie sich auch als alleinstehende Frau zu behaupten wusste. Wie sie mit ihrer Handtasche einen aufdringlichen Verehrer in die Flucht geschlagen hatte, hatte sich schnell rumgesprochen. Aber Margaretes Mutter setzen ihre Behinderung und Krankheiten zu. Schließlich kann sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und muss ins Armenhaus ziehen. Mit den Jahren werden die Zustände im Armenhaus für sie unerträglich und sie fleht ihre Tochter ab 1927 an, wieder nach Creglingen zu ziehen. In einem Brief an Margarete schreibt sie, dass der Lindleinturm zum Verkauf stünde, und Margarete so schnell wie möglich zurückkommen und dieses besondere Gebäude für sie beide erwerben solle. Margarete fühlt sich verpflichtet zurückzuziehen und infolgedessen ihre gute Stelle in Stuttgart aufzugeben – damit auch das gute Gehalt, die kultivierte Umgebung und die verhältnismäßig leichte Arbeit. Nach nur drei Jahren ist das alles vorbei.
Doch die Ausgangssituation für den Kauf des Turms dürfte alles andere als einfach gewesen sein: 1200 Goldmark muss sie auftreiben. Einen Teil der Summe kann sich die damals 30-Jährige von Freunden leihen, für den Rest benötigt sie ein Darlehen von der Bank. Und wenn es eine alleinstehende Frau 1927 schafft, Bankangestellte davon zu überzeugen, ihr ein so hohes Darlehn zu genehmigen, zeugt das von enorm starkem Willen. Die so entstandenen Schulden zahlt sie innerhalb weniger Jahre restlos ab.
Kurz vor dem Einzug trifft sie ein schwerer Schicksalsschlag
Margarete Böttiger freut sich wie ein Kind auf den Umzug, auf das erste gemeinsame Weihnachtsfest mit der Mutter unter einem und vor allem einem eigenen Dach. Für die Mutter lässt sie ein Bett vom Schreiner anfertigen. Bequem soll es die kranke Frau haben. Doch der Einzug von Mutter und Tochter verzögert sich und die Katastrophe tritt ein: Margaretes Mutter stirbt, bevor sie einziehen können.
Wie schwer dieser Schicksalsschlag sie getroffen haben musste, zeigt die Tatsache, dass Margarete Böttiger eine Stelle in der Kohlesmühle annimmt. Der Grund: Sie kann von dort aus den Friedhof und das Grab ihrer Mutter sehen. Das Bett, das sie hatte anfertigen lassen, baut sie wie geplant in der guten Stube auf. Sorgfältig mit Bettwäsche überzogen und mit einem Staubschutz abgedeckt. So steht es in den folgenden 64 Jahren an der gleichen Stelle – unbenutzt. Und auch, wenn die gute Stube nur den vornehmsten Besuchern, wie dem Bürgermeister, vorbehalten und bei Weitem nicht für die tägliche Nutzung gedacht war, so hatte sie das leere Bett doch Tag für Tag vor Augen.
Die Frau im Turm schien alles zu sammeln und nichts wegzuwerfen
Margarete Böttiger liebte ihren Turm. Er war ihr Leben lang ihr großer Stolz gewesen. Und sie hatte bereits früh den Wunsch gehabt, dass ein Museum daraus würde – was der Turm heute auch ist. Die gute Stube war für sie der Vorzeigeraum, in dem sie ihre größten Kostbarkeiten, das meiste waren Geschenke, versammelte. In diesem Zimmer wird deutlich, wie sehr sie ihr Leben lang den ganz kleinen Luxus vermisst hatte. Mehrere geschmückte, künstliche Weihnachtsbäume standen dort ganzjährig. Der besonders kostbare, weil mit elektrischer Lichterkette ausgestattet, war sorgfältig mit einer durchsichtigen Plastikplane abgedeckt, damit er nicht einstauben konnte.
Auch, wenn man sich im restlichen Teil des Turms umschaut: Es scheint, als hätte es nichts gegeben, das sie nicht eventuell hätte brauchen können. Alte Zeitungen, auf der Titelseite der „Stuttgarter Nachrichten“ weist „Brandt Kritik Ulbrichts zurück“, Töpfe, rostige Dosen, Kalender, die vor 60 Jahren aktuell waren. Margarete Böttiger schien alles zu sammeln, nichts wegzuwerfen. Alles wurde möglichst lange genutzt. Auf einem abgewetzten Sessel in der Schlafstube liegen Socken, die sie so oft geflickt hatte, dass sie nur noch aus Flickgarn bestehen. Denn Geld ausgegeben hat Margarete Böttiger nur, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.
Doch ist das, was wir heute im Lindleinturm sehen, alles, was sie dort gehortet hatte? Bei Weitem nicht. „Es hatte noch viel mehr in den Turm gepasst“, erinnert sich Claudia Heuwinkel. Die Kunsthistorikerin hatte Margarete Böttigers gesamten Schriftverkehr gesichtet und in einer Forschungsschrift festgehalten. Ihr erster Eindruck, als sie den Turm Ende der 1990er Jahre betreten hatte: Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Es sei ein komisches Gefühl gewesen, Schubladen zu öffnen und private Dokumente herauszuziehen. Das Unbehagen legte sich mit der Zeit und nach und nach entstand ein lebendiges Bild der Frau, die ihr Zuhause erst mit 97 Jahren verlassen hatte und in ein Pflegeheim in Aub zog.
Wie schwer ihr der Abschied gefallen sein musste, kann man sich kaum vorstellen. Gleichzeitig bleibt es ein Rätsel, wie sie diese engen Räume und steilen Treppen mit fast 100 Jahren allein bewältigen konnte. Wer den Turm betritt, fühlt nämlich zunächst eines: Enge. Und sie wird noch schlimmer. Über eine schmale, steile Treppe geht es hoch und nach rechts ab in einen winzigen, niedrigen Raum. Um ihn zu betreten, muss man auch als kleine Person den Kopf einziehen. Drinnen greift Beklemmung um sich. Darin stehen Margarete Böttigers Bett, ein Tisch mit Radio und Zeitungen, ein Sessel.
Sie liebt ihren Turm und ihre Katzen
Den knappen Wohnplatz teilte sie sich mit ihren geliebten Katzen, zehn konnten es schon mal sein. Manche Nachbarn setzten ihre Katzen bei ihr aus, weil sie wussten, dass Margarete Böttiger sie bestimmt versorgen würde. Und doch wurde sie von einigen als „Katzenmargret“, die im „Katzenturm“ wohnt, verspottet.
Sie selbst empörte sich darüber und hatte sogar in den 1960er Jahren dem Landrat immer wieder geschrieben, damit er den despektierlichen Ausdruck „Katzenturm“ verbietet. Bis ins hohe Alter hätte sie sich eben nichts sagen lassen, war intelligent und hatte ihr Leben lang einen starken Willen, erinnert sich Hermann Grieser, der heute Führungen durch den Turm veranstaltet und Margarete Böttiger selbst noch kennengelernt hatte.
Irgendwann bot sie den Creglingern das Bild einer kauzigen alten Frau, die vor ihrem Turm sitzt, im Hinterhof Hühner hält und mit Kindern verständlicherweise nichts anfangen kann. Kinder fanden sie wiederum wunderlich, was manchmal zu gegenseitigem Ärger führte. Auf den letzten Fotos sieht man eine vom Alter gezeichnete Frau, und ihre großen Hände zeugen davon, wie hart die Arbeit gewesen sein muss, mit der sie ihr Leben bestritt.
Margarete Böttiger blieb ihr Leben lang unverheiratet und kinderlos. Ihren Besitz vererbte sie nach ihrem Tod am 10. September 1995 größtenteils der Stadt Creglingen unter der Auflage, dass ihr Turm in ein Museum umgewandelt wird, sowie mehreren Tierschutzorganisationen.
Sehenswürdigkeit
Museum
Das Lindleinturm-Museum kann in diesem Jahr noch bis zum 27. Oktober samstags und sonntags jeweils von 10 bis 12 Uhr und von 14 Uhr bis 16 Uhr besucht werden. Eine Voranmeldung bei der Touristinfo ist unter Telefon 07933/631 erforderlich.