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Murat Uyurkulak spricht in seinem Buch "Zorn" in wütender Sprache über die dunklen Kapitel in der Geschichte seines Landes.

Stuttgart - Murat Uyurkulak spricht in seinem Buch "Zorn" in wütender Sprache über die dunklen Kapitel in der Geschichte seines Landes. In der türkischen Bevölkerung brodelt eine unheilvolle Wut, sagt er.

Herr Uyurkulak, über wen haben Sie sich zuletzt aufgeregt?

Über meine Katze Pembe.

Warum?

Ich wohne im sechsten Stock. Kürzlich wollte Pembe einer vorbeifliegenden Möwe unbedacht einen Klaps geben. Dabei fiel sie fast aus dem Fenster. Ich musste mich sehr aufregen und habe sie angeschrien.

"Zorn" ist auch der Titel Ihres Buches. Was ärgert Sie an der Türkei?

Eigentlich alles. All diese Fälschungen, dieser Konservatismus, Nationalismus und Faschismus.

Die politische Dimension Ihres Romans findet eine weit höhere Beachtung als die literarische. Stört Sie das?

Es stört mich, dass westliche Literaturkritiker östliche Texte stets in nationalen Allegorien sehen. Ich schlage vor, dass wir aufhören, in solchen Kategorien zu denken. Es macht keinen Unterschied, ob ein Deutscher in Berlin wegen etwas betrübt ist oder eben ich in Istanbul. Ich schreibe keine Geschichten aus 1001er Nacht oder nationale Allegorien. Mein Leben ist politisch geprägt, und wenn ich schreibe, beschäftigen mich politische Ereignisse. Aber ich habe einen Roman geschrieben, und ich habe in diesem Roman über Individuen erzählt. Wenn ich Politik hätte machen wollen, hätte ich ein Manifest oder Plakate geschrieben.

Erreicht man mit literarischen Mitteln langfristig sogar mehr als mit Manifesten?

Literatur kann die Welt nicht verändern, aber sie kann bei dem Einzelnen viele dunkle Türen öffnen, die den Keim für große Veränderungen setzen. Wenn ich schreibe, möchte ich sozusagen Bombenanschläge machen und mit diesen zumindest einige kleine Türen öffnen.

Engagieren Sie sich politisch?

Ich beteilige mich an Protesten und werde mich an der neuen Partei beteiligen, die der Istanbuler Sozialist Ufuk Uras gründet.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Land zu verlassen?

Nein, niemals.

Warum haben viele Jugendliche mit türkischen Wurzeln in Deutschland häufig keine höhere Bildung?

Um ein ehrlicher und anerkannter Mensch zu sein, bedarf es keiner höheren Bildung. Alle Regierungschefs und Minister auf der Welt haben eine höhere Ausbildung genossen, aber fast alle sind unehrlich. Solange auf der Welt die Frage der gewaltigen Ungleichheit nicht gelöst ist und Armut, Grenzen sowie Klassen nicht aus dem Weg geräumt wurden, solange halte ich es für eine Beleidigung, von der mangelnden Bildung zu sprechen und dies den Menschen zum Vorwurf zu machen. Während auf dieser Welt einige wenige Menschen in Saus und Braus leben, sterben Millionen von Kindern an leicht zu verhindernden Krankheiten.

Wenn es die Bildung nicht ist: Was macht Integration dann so schwierig?

Die Menschen sind nicht bereit, ihren Reichtum zu teilen, deswegen können sie auch nicht positiv auf den benachteiligten Teil der Gesellschaft schauen, mit dem sie teilen müssen. Integration ist ein leeres Wort. Die Integration ist nicht das Problem. Sondern die nationale und globale Ungleichverteilung des Einkommens, das Streben nach Gewinn, der Wettbewerb. Es ist also der Kapitalismus, der uns zu Feinden macht.

Sind denn die verschiedenen Kulturen unserer Länder kompatibel?

Wenn die Machthaber und Privilegierten, die von Feindschaft, unbarmherzigem Nationalismus, Unruhe und Auseinandersetzungen Profit schlagen, uns in Ruhe lassen würden, könnten alle Kulturen in meinem Land angenehm miteinander leben. Es gibt welche, die das nicht möchten.

Wer?

Diejenigen, die andauernd von Separatismus sprechen und ihn den Menschen vorwerfen.

Was sagen Sie zu der gegenwärtigen Minarett-Diskussion?

Ich schäme mich für die Schweizer. Diejenigen, die behaupten, das Minarett sei ein Symbol für einen Weltherrschaftsanspruch, unterscheiden sich nicht von den radikalen Islamisten, gegen die sie sich wenden.

Sind die Türken, die im Ausland leben, ein Thema in Ihrem Land?

Ich glaube nicht. Die Probleme der Menschen hier genügen ihnen.

Wie äußern sich diese Probleme?

Die Wut, die Wünsche, die Forderungen der Menschen in der Türkei wurden über lange Jahre unterdrückt. Die Menschen haben sie so sehr in sich hineinfressen müssen, dass sich viel angestaut hat. In vertraulichen Gesprächen sagen viele Menschen in der Türkei Sachen wie "die da oben muss man zum Schweigen bringen". Diese Wut könnte negative Auswirkungen haben. Dass wir die Kurdenfrage immer noch nicht auf einem politischen, friedlichen Weg lösen konnten, kann uns einen hohen Preis kosten. Möglicherweise werden die Menschen ihre Wut auf der Straße gegeneinander richten.

Würde der Beitritt in die EU helfen, die Probleme in der Türkei zu lösen?

Ich glaube nicht daran, dass die EU ein Projekt ist, das auf das Wohl der Menschen, ihre Gleichheit, ihre Freiheit abzielt. Aber ich bin Pragmatiker. Ich möchte den Wohlstand und die partielle Demokratie, die eine EU-Mitgliedschaft meinem Land bringen würde. Also lasst uns zuerst EU-Mitglied werden und dann mit allen Unterdrückten Europas gemeinsam gegen den Kapitalismus vorgehen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Menschheit?

Diese Menschheit ist drauf und dran, in ihrer eigenen Abartigkeit die Welt zu vernichten. Ich würde das Verschwinden der Menschen nicht bedauern, sie würden es verdienen. Ich würde es aber bedauern, dass mit der Menschheit auch die schönen Gorillas, Delfine, Wale, Blumen, Käfer verschwinden würden.

Murat Uyurkulak liest aus seinem Roman "Zorn" am 11. Dezember um 20 Uhr im Stuttgarter Literaturhaus (Breitscheidstraße 4).