Fröhliche Töne: nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus hat sich Leon Keller das Ukulelespielen beigebracht. Foto: factum/Weise

Kurz nach seinem 22. Geburtstag erfährt Leon Keller, dass er Leukämie hat. Heute ist er 23 und hat sich zum Ziel gesetzt, der Krankheit ihren Schrecken zu nehmen. Die eindrückliche Geschichte eines jungen Mannes.

Ludwigsburg - Leon Keller ist: 23 Jahre und ein Meter siebenundachtzig groß. Er hat: kurze Haare und eine Brille. Was er gerne tut, ist: Radfahren und Schwimmen. Was er sehr gut kann, ist: Mut machen! Leon Keller hat Leukämie. Er kann nicht sagen, dass seine Leukämie geheilt sei. Aber, dass er mit ihr ganz okay lebe, das kann er sagen. Und das will er sagen. „Diese Krankheit ist mit so viel Schrecken und Angst verbunden, es gibt aber auch positive Verläufe, das will ich rüberbringen.“

 

Eine Geschichte voller Lebensfreude

Wer Leon Keller aus Ludwigsburg seine Geschichte erzählen hört, kann über seine Zuversicht staunen. Und sich anstecken lassen von seiner Lebensfreude. Und er kann sich fragen, ob sich darin vielleicht nicht eine Weihnachtsbotschaft verbirgt.

Der Tag der Diagnose ist der 7. August 2017. Leon Keller ist in der Notfallpraxis im Stuttgarter Marienhospital, seine Freundin hat ihn dazu überredet. Leons Urin ist rötlich getrübt, auch mit viel Trinken wird es nicht besser. Die Ärztin in der Notfallpraxis ultraschallt die Blase: Sie ist nicht entzündet. Sie befragt den Patienten: Er hat keine Schmerzen, er fühlt sich nicht übel oder schlapp. Doch als das Blut analysiert ist, ist klar: Etwas stimmt nicht. In Leon Kellers Blut schwimmen zu viele weiße Blutkörperchen. 432 000 Stück pro Mikroliter um genau zu sein, normal sind fünf- bis zehntausend. Die Ärztin sagt: Ein starkes Indiz für Leukämie. Leon Keller denkt „das große böse Wort: Krebs!“

An diesem Abend fährt er nicht mehr nach Hause. Er bekommt ein Zimmer auf der Onkologie und wird dort erst mal bleiben. Wie lange, weiß an diesem Abend keiner. Heute kann man sagen: Es wird nicht lange sein, nur zehn Tage.

Es kann jeden jederzeit treffen

Bei einer Leukämie werden kranke weiße Blutkörperchen im Knochenmark gebildet. Gibt es sehr viele davon, verdrängen sie auch gesunde Blutzellen. Laut der Deutschen Krebsgesellschaft erkranken pro Jahr rund 13 700 Menschen an einer der vier Hauptformen der Leukämie. Bei Leon Keller werden die Ärzte letztlich eine chronisch myeloische Leukämie diagnostizieren, kurz CML. Dabei handelt es sich um eine seltene Form von Blutkrebs, die in den meisten Fällen durch eine Veränderung im Erbgut einer blutbildenden Stammzelle entsteht. Sie kann jeden jederzeit treffen.

Leon Keller teilt sein Krankenzimmer mit einem älteren Herrn. Zwei Tage davor war er noch zelten gewesen, mit Freunden hat er seinen Geburtstag nachgefeiert. Am Tag darauf wollte er eigentlich wie üblich zur Arbeit. Bei Dürr in Bietigheim vertreibt der junge Entwicklungsingenieur Maschinen, die Abwärme in Strom verwandeln. Doch nun, in dieser Nacht auf den 8. August, liegt er in diesem weißen Krankenbett und weiß eigentlich nur, dass am nächsten Tag weitere Untersuchungen anstehen, unter anderem wird ihm aus dem Beckenkamm Knochenmark entnommen. Leon Keller überlegt: Werde ich noch andere Kontinente bereisen können? Werde ich jemals Fallschirm springen? Ob ich mal heirate? Baue ich ein Haus? Kann ich Vater werden? Oder werde ich sterben?

Das Blut ist zäh wie Marmelade

Leon Keller findet in dieser zwei Nacht zwei Gewissheiten: „Ich will jeden Moment meines Lebens so gut wie möglich genießen.“ Und: „Hadern hilft nichts. Ich muss den Ärzten vertrauen.“

Wegen der extrem vielen schlechten Blutkörperchen ist Leon Kellers Blut fast so zäh wie Marmelade. Das ist gefährlich für sein Herz, weil es schneller schlagen muss, um das Blut durch seinen Körper zu pumpen. Seine Milz, die nicht hinterherkommt, das schlechte Blut zu filtern, ist wegen der Überarbeitung viel zu groß: 26 Zentimeter, normal sind zehn. Die miesen Blutwerte und die riesige Milz hätte man früher erkennen können, aber Leon Keller ist lange nicht beim Arzt gewesen. Er war nicht krank, und er fühlte sich nicht krank.

Gleich am nächsten Tag beginnt die Chemotherapie. Leon Keller kann Tabletten nehmen, sechs am Morgen und sechs am Abend. Die Kapseln sollen die überschüssigen Leukozyten töten, aber ihr Gift trifft auch alle anderen Zellen, auch die gesunden. Die ersten zwei Tage ist Leon Keller leicht übel, „sonst habe ich nicht viel gespürt von der Chemo.“

Schreckliche Bilder im Kopf

Leon Keller kennt die Bilder und die Geschichten: Von Mädchen, die klapperdürr in einem Rollstuhl sitzen, ohne Haare auf dem Kopf und ohne Kraft im Blick. Von Buben, die ohne Mundschutz und Infusionsständer nicht sein dürfen. Von Männern, deren Organe versagt haben und die alles neu lernen müssen. Von Frauen, die monatelang auf Isolierstationen liegen und hoffen, dass sie der Rückfall nicht umbringt. Und natürlich von Vätern, Müttern, Geschwistern, Partnern, die verzweifelt sind und nur noch Angst haben.

Patienten mit solchen Krankheitsgeschichten haben in der Regel keine CML, sondern eine schlimmere Form der Leukämie. Aber das weiß man als blutiger Anfänger nicht unbedingt. Und wäre Leon Keller vor vielen Jahren krank geworden, würde es vielleicht nicht die fröhlichen Fotos von ihm im Krankenhaus geben, die es Gott sei Dank gibt. Vor drei Jahrzehnten noch hätte Leon Keller keine drei Jahre mehr zu leben gehabt. Oder er wäre er auf einen Stammzellenspender angewiesen gewesen und darauf, dass er die Transplantation übersteht. Doch heute ist so ein riskanter Eingriff nicht mehr zwingend nötig.

Unterstützung von José Carreras

Die Forschung hat aus dem lebensbedrohlichen Blutkrebs eine chronische Krankheit gemacht, die gut behandelbar geworden Die Überlebenschancen eines CML-Patienten sind heute nicht wesentlich schlechter als die eines gesunden Menschen. Leon Keller formuliert es so: „Leukämie ist schon scheiße – aber mit CML hat man eine kleine Scheiße erwischt.“ Am 17. August 2017 darf er nach Hause. Die Zahl der Leukozyten in seinem Blut liegt bei 69 000. Ab jetzt gilt es, die bösen Zellen am Wachsen zu hindern.

In der ersten Zeit muss Leon Keller zwei Mal die Woche zur Blutkontrolle. Inzwischen hat er einen Kontrolltermin im Monat. Jeden Abend um acht erinnert ihn sein Handy daran, die Tablette einzunehmen, die eine Mutation seiner Blutzellen verhindert. Und alle drei Monate fährt er nach Jena, wo er an einer Studie teilnimmt, die die Nebenwirkungen seines Medikaments testet. Das CML-Zentrum der Uni-Klinik dort wird von der José-Carreras-Stiftung unterstützt. Als der spanische Tenor vor elf Tagen mit einer pompösen Gala wieder Spenden sammelte, saß auch Leon Keller im Publikum – und freute sich, dass am Ende mehr als drei Millionen Euro zusammen kamen. „Ohne die Forschung würde mein Leben vielleicht anders aussehen“, sagt Leon Keller, der sich deshalb gerne selbst als Studienobjekt zur Verfügung stellt.

Keine Angst mehr

Leon Keller ist: acht Wochen nach dem Aufsuchen der Notfallpraxis wieder zur Arbeit gegangen; und im letzten Sommer mit dem Wohnmobil die portugiesische Küste entlanggefahren. Er hat: sich das Ukulele-Spielen beigebracht und mit Joggen begonnen. Was er früher nicht so gut konnte: entspannt auf Fremde zugehen und Vorträge halten. Was er heute gut kann: sagen, dass es Schlimmeres gibt. „Ich habe keine Angst mehr.“