Abrissgefährdet, wie viele Gebäude in Stuttgart: das repräsentative Haus in der Hölderlinstraße 3 A Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Die Stadt hat in den vergangenen Jahren viel Bausubstanz verloren. Höchste Zeit für eine breite öffentliche Debatte über die Stadtentwicklung, findet Kommentator Jan Sellner.

Stuttgart - Eine Stadt ist wie ein aufgeschlagenes Lesebuch. Dieses einprägsame Bild stammt von dem Stuttgarter Architekten Roland Ostertag, der dieser Stadt eng verbunden ist, der ihr Werden und Entstehen kennt wie kaum ein Zweiter – und der ihr oder vielmehr den Stadtoberen regelmäßig und gehörig auf die Nerven geht.

Auch das poetische Bild vom Lesebuch ist unbequem. Denn dahinter steht eine sehr konkrete Kritik. Nach Ostertags Auffassung ist das Stuttgart-Lesebuch in einem bedauernswerten Zustand. Richtiggehend zerfleddert. Viele Seiten wurden im Laufe der Jahre herausgerissen – so viele, dass die große Stuttgart-Erzählung längst unvollständig ist. Zwar sind viele neue Kapitel hinzugekommen – die Stadt erneuert und verändert sich gerade jetzt atemberaubend schnell. Man kann die Geschichte jedoch nicht verstehen, wenn man überall auf Leerstellen stößt.

Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“

Und es werden weiterhin Seiten entnommen. Im Vorgriff auf die Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“, die von nächster Woche in der Architekturgalerie auf dem Killesberg zu sehen sein wird, beklagt Ostertag in einem Beitrag für unsere Zeitung einen anhaltenden „Abriss-Furor“ (Siehe die folgenden Seiten). Stuttgart, so lautet Ostertags Feststellung, hat nach den massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg in der Nachkriegszeit noch in erheblichem Maße an historischer Substanz verloren. Als Ursachen sieht er ökonomisches Verwertungsdenken und eine Mentalität der Geschichtsvergessenheit.

Betroffen waren und sind nicht nur repräsentative Bauwerke wie das Kaufhaus Schocken, sondern auch viele Gebäude, die der Architekt „dem qualitativen Alltag zurechnet“. Diese Gebäude sind wichtig für eine Stadt, weil sie ihre Entwicklung dokumentieren – wie beispielsweise die Arbeiterwohnungen, oder weil sie ihren Charakter mitformen, wie das jüngst abgerissene Haus des Malers Hermann Finsterlin am Frauenkopf oder die Villa Bolz auf dem Killesberg, die für ein wichtiges Kapitel des deutschen Widerstands gegen Nazi-Deutschland steht oder besser gesagt: noch steht.

Gebäude dürfen nicht geräuschlos verschwinden

Städte müssen sich entwickeln und erneuern können. Dafür braucht es Raum – auch auf Kosten von Altem. Man muss abwägen zwischen Bewahren und neu Gestalten. In Stuttgart ist dies auffallend oft nicht gelungen. Stadtprägende Gebäude wurden preisgegeben, wie das Steinhaus, das älteste Haus der Stadt. Andere nur knapp gerettet – die Markthalle oder das Bosch-Areal. Gleichzeitig entschied man sich für den Erhalt der Eisenbahndirektion gegenüber dem inzwischen flügellosen Hauptbahnhof. Und das gleichsam um jeden Preis: die Konservierung des Gebäudes, sein Abstützen durch Pfähle und das Einziehen einer Bodenplatte, wird von der Bahn auf 50 Millionen Euro (!) beziffert. Die Fassade zu retten und später einen Neubau damit zu verkleiden – ähnlich wie beim Stadtmuseum – wäre sinnvoller gewesen.

Das – wie vieles andere auch – ist nicht mehr zu korrigieren. Die Diskussion ist dennoch nicht müßig. Im Gegenteil: Ostertags Debattenbeitrag, seine Zusammenschau von Stuttgarter Bau- oder vielmehr Abrisssünden sind geeignet, das Nachdenken über die Stadtentwicklung anzuregen – die gewesene und die künftige. Wenn damit verhindert wird, dass wichtige Zeugnisse der Stadtgeschichte geräuschlos verschwinden, wäre viel erreicht. Deshalb lesen wir aus dem Stuttgarter Lesebuch vor. Laut und deutlich.

jan.sellner@stzn.de