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Gegner und Befürworter von S 21 stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Stuttgart - Es ist weit gekommen in Stuttgart. Alte Freunde fragen einen beim Wiedersehen nicht, wie es einem geht. Die Frage aller Fragen lautet: Bist du für Stuttgart 21, oder bist du dagegen? Der Riss geht durch Familien und Vereine. Er eskaliert am Arbeitsplatz und in der Kneipe. Er füllt die Leserbriefspalten der Zeitungen. Bis du dafür oder dagegen? Von der Antwort hängt es immer öfter ab, ob Freundschaften halten, Fahrgemeinschaften in Takt bleiben, Skatrunden weiter reizen, Grillabende stattfinden. Eine Stadt ist in Aufruhr. Ehrlich empört die einen, die gegen das Milliardenprojekt sind, demonstrativ verständnislos die anderen, die dem ganzen Ausmaß von Emotion und Betroffenheit mit (gesunder) Skepsis gegenüberstehen.

 

An einem Freitag, den 13., hat der Abriss des Nordflügels begonnen. Im Morgengrauen. Sage keiner, die Bahn hätte kein Gespür für geschicktes Timing. An dem Samstag, an dem der Bauzaun errichtet wurde, fuhr Wolfgang Drexler, der S-21-Sprecher, in Urlaub. Ein passender Zeitpunkt auch das. Man könnte so weiter "argumentieren". Wie bisher. Denn längst scheint es nicht mehr um Sachlichkeit zu gehen. Walter Sittler, ein Kopf der Protestbewegung, hat es auf den Punkt gebracht: "Man hat einfach das Gefühl, da stimmt was nicht." Recht hat er. Mittlerweile beherrschen Gefühle, Vermutungen, Unterstellungen, Befürchtungen und Falschinformationen die Szene. Auf beiden Seiten und mit unterschiedlichstem Einsatz.

Das Ringen um S 21 ist längst ein Machtkampf. Wir da unten gegen die da oben. Das kleine Stuttgart gegen das Große und Ganze. Diese Botschaft jedenfalls würden gern viele Gegner senden. Ja, es geht ihnen um Wirtschaftlichkeit und Milliarden-Vergeudung, nicht zuletzt aber dreht sich alles um den Erhalt historischer Bausubstanz und die Rettung alter Bäume.Über allem schwebt zudem am Nordflügel ein Spruch wie in Stein gemeißelt: "Sie verlassen den demokratischen Sektor." Wie einst im geteilten Berlin.

Heute ist Stuttgart eine geteilte Stadt. Hier das Lager der bis zu 20000 Demonstranten, die sich für die Mehrheit halten. Die Gruppe der 60000, die gegen Stuttgart 21 unterschrieben haben. Die Wähler, die bei der Kommunalwahl deutliche Machtverschiebungen im Gemeinderat erreicht haben. Unter ihnen zahlreiche Ältere. Selbst ernannte Bürgerrechtler und echte Bildungsbürger. Überraschend viele Demo-Novizen. So herrlich kreativ, das einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Dort die Gruppe jener, die zustimmend schweigen, desinteressiert und/oder sich in der passiven Gewissheit wiegend, dass das Projekt zukunftstauglich, vor allem aber rechtlich, wirtschaftlich und politisch unumkehrbar ist - auch ohne ihr Zutun. Und die Politik? Sie verweist auf korrekte demokratische Abläufe in Parlamenten und vor Gerichten. Und ist überrascht, dass dem Souverän das nicht reichen will.

Die Demonstranten aber wollen ihre Stimme nicht mehr delegieren, sondern sie öffentlich erheben und von Fall zu Fall zuteilen. Das ist mehr als ein Streit um ein Projekt, bei dem im jahrzehntelangen Streit jedes Argument sein Gegenargument gefunden hat und die Sachlichkeit dabei auf der Strecke geblieben ist. Die Gegner wittern Kartelle aus Politik, Wirtschaft und Medien. Die Befürworter argwöhnen plumpe Ideologie und grüne Trittbrettfahrerei. Die CDU duckt sich, die SPD ängstigt sich vor der Zerreißprobe. Die Bahn greift zu blutleeren Werbeparolen, die Bundesregierung glänzt durch Abwesenheit, das Landeskabinett vertraut den mageren Durchhalteparolen, das Rathaus gibt sich aus der Ferne entspannt.

Kein Wunder: S 21 ist für viele eine politische Glaubensfrage. Für manche das goldene Kalb direkter Demokratie. Dafür oder dagegen? Bleiben wir im Gespräch!