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Der Streit um Stuttgart 21 wird von absurden Vergleichen begleitet, sagt Jan Sellner.

Stuttgart - Es gibt ein Leben neben Stuttgart 21; es gibt Demonstrationen neben Stuttgart 21. Regelmäßig gehen in der Landeshauptstadt Bürger aus ganz anderen Gründen auf die Straße - Menschenrechtsgruppen etwa, deren wenigen Teilnehmer gute Gründe hätten "We shall overcome" anzustimmen. Tatsächlich jedoch erklang die Hymne der US-Bürgerrechtsbewegung aus den 60er Jahren unlängst bei einer Versammlung von Stuttgart-21-Befürwortern auf dem Marktplatz. Auf der Bühne standen nicht etwa Joan Baez oder Jesse Jackson, sondern Umweltministerin Tanja Gönner und Bahnchef Rüdiger Grube - eine der vielen befremdlichen Inszenierungen, die den Streit um das Bahnprojekt begleiten. Die Stadt hängt voller schiefer Bilder. Überall Begriffe und Bezüge, die nicht hierher gehören. Insbesondere Gegner des Projekts haben Stuttgart 21 damit aufgeladen.

"Wir sind das Volk" beispielsweise gehört nicht hierher. "Wir sind das Volk"

gehört nach Leipzig, wie die "Montagsdemonstrationen" auch. Die Symbolik der DDR-Bürgerrechtsbewegung ist reserviert für existenzielle Sorgen, nicht für Wohlstandsfragen. Darauf weist der Präsident der Bundeszentrale für politische

Bildung, Thomas Krüger, zurecht hin. Dem in der DDR aufgewachsenen einstigen Mitbegründer der Bewegung "Kirche von unten" läuft nach eigenem Bekunden "ein bisschen ein Schauer über den Rücken", wenn S21-Demonstranten im Stile der DDR-Bürgerrechtler auftreten - bei

allem Respekt, den er den aufmüpfigen Stuttgartern sonst entgegenbringt.

Als würde ein "Best of" aus 50 Jahren Protestgeschichte nachgestellt, sind rund um den Stuttgart Bahnhof Protestanleihen aus aller Welt zu besichtigen: von den Pace-Fahnen der Friedensbewegung bis zu Reminiszenzen an die demonstrierenden Mütter in Argentinien. Nachstellen bedeutet zwangsläufig sinnentstellen: Die grünen Bänder aus dem Iran etwa symbolisieren den Kampf für Menschenrechte, nicht den Kampf für einen Kopfbahnhof. Haarsträubend ist das Plakat am Bauzaun, das eine Parallele zum Platz des Himmlischen Friedens herstellt. 1989 ließ die chinesische Führung in Peking den Ruf nach Demokratie ersticken. Kennen diejenigen, die mit solchen Vergleichen hantieren, die historischen Kontexte nicht? Geht es ihnen um Provokation? Um Selbstinszenierung? Und warum sehen und hören so viele Mitdemonstranten darüber hinweg? Das Recht auf freie Meinungsäußerung erlaubt schließlich nicht nur, Unsinn zu verbreiten, sondern auch, Unsinn entgegenzutreten. Wenn dies unterbleibt, sollte sich der Protest nicht intellektuell nennen.

Vieles gehört nicht in diese Stadt - übrigens auch Wasserwerfer nicht -, und vieles gehört sich schlicht nicht: Verunglimpfungen wie "Lügenpack" dröhnen jedem politisch aufgeschlossenen Bürger in den Ohren: "Pack" heißt Gesindel. Wer demokratisch gewählte Politiker mit diesem Ausdruck belegt oder vom "Staatsterror" der "Talibahn" spricht, demonstriert damit nur, dass er keine Diskussionskultur besitzt. Infam ist es umgekehrt, den Schauspieler und Projektgegner Walter Sittler in eine Reihe mit Nazi-Propagandisten zu stellen - ein Bild, das CDU-Generalsekretär Thomas Strobl zu verantworten hat. Seine Entschuldigung war unumgänglich.

Der Stuttgarter Protest erfährt bundesweit Beachtung, sein kreatives Potential wird oft gelobt. Der "Schwabenstreich" - archaischer Krach für die Dauer von 60 Sekunden - ist ein regionales Produkt und der Ruf "oben bleiben!" auf dem besten Wege ein geflügeltes Wort zu werden. In scharfem Kontrast dazu stehen die Auswüchse und Ausreißer, die Verzerrungen und Zuspitzungen, die Emotionalität, die zu Lasten der Sachlichkeit geht. Heiner Geißler ist dabei, die Debatte auf ihren Kern zurückzuführen. Mäßigung durch Schlichtung. Damit wäre viel gewonnen.