In Stuttgart zu kaufen: Aleppo-Seife aus Syrien. Ein Beispiel dafür, wie nah das vermeintlich Fernliegende sein kann. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Viele Menschen suchen eine Auszeit von schlechten Nachrichten, suchen Zerstreuung und tauchen ab. Aber geht das so einfach?, fragt unser Leitartikler Jan Sellner.

Stuttgart -

„Ich bin so knallvergnügt erwacht.

Ich klatsche meine Hüften.

Das Wasser lockt. Die Seife lacht.

Es dürstet mich nach Lüften . . .“

Mit Ringelnatzscher Leichtigkeit das lange Wochenende beginnen, die Arbeit hinter sich lassen. Dem Körper und der Seele etwas gönnen. In der Sauna entspannen oder im „Wannenbad“, wie Joachim Ringelnatz sein Gedicht betitelte, das luftig ist wie Badeschaum. Die Seife lacht . . .

Tut sie das? Was blenden wir aus, wenn wir ab- und untertauchen – ob im Wannenbad, im Konsumgewimmel, im Nachtleben oder auf dem Cannstatter Wasen? Nichts gegen Volks(fest)belustigungen jeder Art. Ausgeblendet wird jedoch immer öfter die Welt da draußen, die uns scheinbar unaufhörlich mit schlechten Nachrichten zusetzt. Und es ist ja tatsächlich schwer zu ertragen. Terror und Elend, wohin man blickt. Im Irak, in Syrien . . . Viele Leute schalten ab. Aus Selbstschutz und weil sie ihr Lachen behalten wollen. Verständlich, aber geht das so einfach? Ist man aus alledem raus, indem man sich in den Lampenschein des Privaten begibt, Zerstreuung sucht, in Lederhosen und Dirndl maximal Spaß hat und sich mit lachender Seife wäscht?

Seifenverkäufer aus Syrien

Es könnte sein, dass die Seife für das private Relax-Wochenende von einem Ort stammt, den seine eingeschlossenen Bewohner als Hölle auf Erden beschreiben. Seife aus Aleppo ist weltberühmt. In einem eindrücklichen Bericht hat Lokalredakteur Jürgen Löhle jüngst in dieser Zeitung beschrieben, wie es den aus Syrien stammenden Brüdern Nawras und Bassam Al-Machout unter schwierigsten Bedingungen gelingt, Seifen aus den wenigen noch arbeitenden Seifensiedereien Aleppos zu beziehen, um sie in ihrem Laden im Stuttgarter Westen zu verkaufen. Diese Seife verbreitet einen herrlichen Duft. Aber sie lacht nicht, sie weint.

Über was regen wir uns auf?

Das tun auch die Menschen, die es geschafft haben, dem Terror zu entfliehen, deren Gedanken jedoch den zurückgebliebenen Verwandten und Freunden gehören. So wie die drei 24, 26 und 27 Jahre alten Syrer, die unsere Zeitung seit mehr als einem Jahr in ihrer neuen Heimat Stuttgart begleitet. Alle drei stammen aus Aleppo, das vor den Augen der schweigenden, ihre Hände – mit Aleppo-Seife? – in Unschuld waschenden Welt in Schutt und Asche versinkt. Die Schreie der Opfer und die Aufschreie unsererseits stehen in einem krassem Missverhältnis. Dafür regt man sich in Stuttgart auf, wenn der Preis für die Maß Bier die „Schallmauer“ von zehn Euro durchbricht oder mal wieder eine Baustelle den Verkehr behindert – was zweifellos ärgerlich ist, aber richtig eingeordnet gehört.

Das eingangs zitierte Ringelnatz-Gedicht endet mit den Zeilen:

„Aus meiner tiefsten Seele zieht

Mit Nasenflügelbeben

Ein ungeheurer Appetit

Nach Frühstück und nach Leben.“

Appetit nach Leben – auch das verbindet uns mit den Menschen in Aleppo. Dort ist der Hunger nach Leben, überhaupt die Sehnsucht danach, gerade unermesslich groß. Wir sind Zeitzeugen. Das sollten wir bedenken statt uns abzulenken.

jan.sellner@stzn.de