Der Romancier als Chronist: Lutz Seiler Foto: imago/VIADATA/imago stock&people

Lutz Seilers Roman „Stern 111“ ist mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Er blickt auf die Wende zurück, wie man sie noch nicht gesehen hat.

Stuttgart - Corona hat die Verleihung des Leipziger Buchpreises in diesem Jahr zu einer Angelegenheit des Hörfunks gemacht. Und so effektvoll Deutschlandradio Kultur die Verlesung der Kandidaten mit Hall und pathetischem Soundtrack aufgemöbelt hat, macht sich auf der akustischen Bühne, die den zur Sperrzone gewordenen öffentlichen Raum ersetzen muss, eine merkwürdige Retroempfindung breit. Und beinahe könnte man das leidige Virus einmal nicht nur für einen großen Verhinderer halten, sondern für einen trickreichen Regisseur. Denn der Titel des in der Sparte Belletristik ausgezeichneten Romans, „Stern 111“ von Lutz Seiler, geht zurück auf ein in der DDR beliebtes Radiomodell.

Es ist die erste Anschaffung der Familie gewesen, in der der Protagonist Carl Bischoff aufgewachsen ist. Als Kind hatte er ein Kissen im Rücken, und das Gerät mit der goldenen Blende auf den Knien. Das liegt lange zurück. Gerade sind die Grenzen geöffnet worden. Und Carl, mittlerweile Mitte zwanzig will im Trubel der Ereignisse frei nach Novalis vor allem eines: nach Hause.

So beginnt die große Reise dieses Romans, der sich gewissermaßen spiegelbildlich zu dem 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Vorgänger „Kruso“ verhält: erzählte dieser aus dem Blickwinkel eines Ausflugslokals auf der Insel Hiddensee die letzten Tage vor der Wende, so schildert „Stern 111“ aus der anarchischen Untersicht einer Berliner Kellerkneipe die darauffolgende Periode zwischen Zerfall und Neubeginn, die für Carl zur Passage in ein poetisches Dasein wird.

Urzustand vollständiger Finsternis

Ein Zuhause gibt es nicht mehr. Das alte Leben wurde abgepfiffen. Die Eltern sind in den Westen aufgebrochen, ein ihnen bisher vorenthaltenes Glück zu suchen. Als Nachhut bleibt Carl zurück mit dem Schiguli des Vaters, einer Art russischem Trabi. „,Unsere Eltern sollen es einmal besser haben.‘ Etwas stimmte nicht mit diesem Satz.“ Also lässt sich Carl in dem Schiguli auf dem Strom der neuen Zeit aus der ostdeutschen Provinz nach Berlin treiben, eine Stadt, die ihm erscheint wie zurückgefallen in einen Urzustand vollständiger Finsternis.

„Stern 111“ leuchtet diese Szenerie in expressivem Licht aus. Und wie jeder große Bildungsroman gibt er auf die nicht nur transzendentale Obdachlosigkeit seines Helden eine eigene Antwort. Mit Schwarztaxifahrten hält sich Carl über Wasser, bis er immer tiefer eintaucht in den naturrechtlichen Freiheitsraum der Hausbesetzerszene. Der von seinen Eltern Verlassene findet Anschluss an das „kluge Rudel“, das im Untergeschoss verfallender Altbauten eine Art antikapitalistischer Untergrundkolchose eingerichtet hat.

Außer den natürlichen Kleinstlebewesen, die dem Kellerlokal zum Namen verhelfen, „Assel“, verkehren hier russische Soldaten, Prostituierte, Punks oder eben werdende Künstler wie der „Schigulimann“ Carl. Dem Rudel steht die eindrucksvolle Gestalt eines „Hirten“ vor, der außer einer leibhaftigen Ziege, seine Schäfchen in drei Klassen teilt: kooperativ, widerspenstig und seltsam. Irgendwann schaut auch einmal jener Seiler-Lesern wohlbekannte Kruso vorbei, den alle nur den „Sprengmeister“ nennen, etwas muss zwischen den Romanen in seiner Seele zu Bruch gegangen sein. Man übt Kritik am „Schweinesystem der Okkupanten“ zu und ruft die „Freie Republik Utopia“ aus, während ringsum das Privateigentum zur neuen heiligen Kuh wird.

Die Welt wird neu verteilt. Das „kluge Rudel“ lebt von Werkzeugraub und dem Verkauf von Bruchstücken der Mauer. Die kluge Ökonomie, mit der Lutz Seiler die Wirklichkeit in literarische Bilder tauscht, wird bei diesem Ausverkauf im Detail sichtbar: die materielle Basis der Gemeinschaft stiftet die Souvenirwerdung der eigenen Geschichte. Als erste „Nachwendekneipe“ oder „Szenetreff“ wird die Assel später in den Reiseführern verzeichnet. So erzählt der Roman auch die Gentrifizierungsgeschichte Berlins: nach den Anarcho-Pionieren kommen die Touristen, dann die amerikanischen Investoren.

Rückspiegel der Geschichte

Auch Carls große Passion überlebt das libertäre Vergesellschaftungsprinzip nicht. Effi, in die er sich verliebt hat, seit sie in der Schule Fontanes „Effie“ gespielt hat, wird als Galionsfigur schmerzhaften Beziehungstroubles aus dem Berliner Untergrund zusammen mit dem Hippievater ihres Sohnes an die Aussteiger-Gestade Kretas getragen.

Parallel zu dem Marsch durch die Instanzen sozio-poetischer Selbstfindung folgt „Stern 111“ auch dem Weg der Eltern in die Freiheit. Alles steht Kopf. Waren es früher die Kinder, die in die Welt zogen, ist es hier gerade andersherum. Aus den Augen der ostdeutschen Flüchtlinge erlebt man ein Westdeutschland, wie es so noch nicht beschrieben wurde. Ähnliches wie Carls Eltern hätte man heute vielleicht als syrischer Migrant zu gewärtigen. Übermannt von einem Gefühl grenzenloser Unterlegenheit kommt dem Vater das alte Wort vom Massa in den Sinn. „Für einen Moment, hab ich mich selbst schwarz gesehen, schwarz und angegraut und einfach zu alt für einen brauchbaren Sklaven, mit über fünfzig Jahren.“

Im Unterbau dieses vielschichtigen Romans ist ein Röhrensystem eingezogen, über das er mit der Weltliteratur kommuniziert. Sie ist das eigentliche Zuhause, in das der Schigulimann schließlich einzieht. Die wilden Zeiten sind vorbei, die Literatur ist ihr Rückspiegel. Nie hat man klarer gesehen, was sie bedeuten.

Die weiteren Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse

In der Kategorie Sachbuch/Essayistik wurde Bettina Hitzer für ihr Werk „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ ausgezeichnet (Klett-Cotta Verlag). Der Preis für die beste Übersetzung ging an Pieke Biermann für ihre Übertragung des Werks „Oreo“ von Fran Ross aus dem amerikanischen Englisch (dtv). Die Gewinnerinnen und Gewinner erhalten jeweils 15.000 Euro Preisgeld.