Weltflucht im Glashaus und intensivster Kontakt mit den Brandherden der Welt: beides kann man bei einem Gang über die Buchmesse erleben.
Am Anfang steht Musik. Bach, wer sonst in Leipzig. Fantasie in g-Moll, ein himmlisches Orgeltosen, das alle harmonischen Abgründe durchschreitet und den Blick auf die über dem Instrument prangende Maxime lenkt: Res severa verum gaudium, wahre Freude ist eine ernste Sache. Sie stammt von dem römischen Philosophen Seneca, der es mit Nero zu tun hatte. Und wie dieser Satz Ernstes und Erfreuliches zusammenbringt, beschreibt ganz gut die Stimmung im Leipziger Gewandhaus bei der Eröffnung der diesjährigen Frühjahrs-Buchmesse: Frohe Erwartung eines die ganze Stadt belebenden Lesefestes und eine politische Gemengelage, in der sich in Stein Gemeißeltes aufzulösen scheint wie Seifenschaum. Mit diesem Bild zitiert der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung den Schriftsteller Paul Auster.
Schon während der ersten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten sah Auster voraus, was kommen würde: die Bedrohung der Demokratie durch schäumendes spätrömisches Cäsarentum. Doch so trostlos der Befund, huscht erheitertes Raunen durch den voll besetzten Saal, als der Oberbürgermeister in seinem Grußwort fragt: „Wissen Sie, was Donald Trump von Büchern hält?“ Der Geruch mache ihn müde! Um den zerstörerischen Aktionismus des notorischen Illiteraten zu bremsen, schlägt Jung vor, Bücher in das Weiße Haus zu schicken.
Doch vermutlich würden diese ein ähnliches Schicksal teilen, wie der Roman „Europas Hunde“ des belarussischen Schriftstellers Alhierd Bacharevic in dessen Heimatland. Er geriet auf den Index des Lukaschenko-Regimes, eine in Vilnius gedruckte Auflage wurde vom Zoll abgefangen und kurzerhand mit Baggern untergepflügt. In Leipzig erhielt der im Berliner Exil lebende Autor den Preis zur Europäischen Verständigung. Sein Roman beschreibt den Weg in eine Zukunft, in der nicht nur Belarus von einem Russischen Großreich verschluckt worden ist, sondern auch die große polyfone, komplexe Erzähltradition im Geiste Joyces oder Nabokovs, die „Europas Hunde“ aufleben lässt, und mit ihr die uralte und ursprüngliche Sprache der Poesie.
Vieles, was er beschrieben habe, sei wahr geworden oder werde weiterhin war, sagt Bacharevic in seiner Dankesrede: der vorhergesagte Krieg, das Russische Reich als eine finstere Herausforderung für Europa, für die Freiheit, für die Kultur. Und er warnt davor, die Freiheit im Namen eines fiktiven Friedens zu verraten. Zugeständnisse an die „Terroristen im Kreml“ würden bald einen neuen, noch größeren Krieg bringen. „Die Luft in meinem Europa zittert und riecht wie im August 1939.“ Nicht überall im Freistaat Sachsen würde man ihm dafür Beifall spenden. Hier schon.
Zwischen Edvard Grieg und Death Metal
Das diesjährige Gastland ist Norwegen. Bei der berechtigten Vorfreude auf die reiche Literatur aus dem Norden, könnte man beinahe die düsteren Themen, um die sie häufig kreist, aus den Augen verlieren, Missbrauch, Mord oder das Bündnis mit finsteren Mächten, wie in dem neuen Roman „Schule der Nacht“ von Karl Ove Knausgard. Nachdem Kronprinzessin Mette Marit als Literaturbotschafterin ihre Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen musste, ist er das prägende Gesicht der norwegischen Delegation. Zur Begrüßung hatte das die Eröffnung begleitende fabelhafte Gewandhaus Orchester der Stadt Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite auf das Programm gesetzt. Eine jener berüchtigten norwegischen Death-Metal-Bands hätte die Stimmung seiner Literatur womöglich genauer getroffen.
Auf den Straßen der Stadt riecht es nicht nach 1939, sondern nach Frühling und nach Literatur, die das Lesefestival „Leipzig liest“ an den verschiedensten Orte erlebbar macht, zum Beispiel im Kinosaal der trutzigen Spitzelburg der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung. Vor den Toren der gläsernen Messehalle, stauen sich hunderte Meter lange Schlangen eines Publikums, von dessen Altersschnitt andere Kulturinstitutionen jenseits von Popkonzerten nur träumen können, junge Leute teils in fantastischen Kostümen. Das schauerliche Bild untergepflügter Bücher noch im Hinterkopf, meint man hier, die Saat der Literatur aufgehen zu sehen, ungeachtet zurückgehender Verkäufe und der insgesamt angespannten Lage, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels konstatiert. Wer weiß, wie die Bilanz ohne den Push der Plattform BookTok ausgefallen wäre: 25 Millionen Bücher wurden laut dem Marktforschungsunternehmen Media Control 2024 verkauft, nach dem sie unter dem Hashtag des TikTok-Ablegers Erwähnung fanden.
Nicht nur die liebevoll aufgebrezelten Gestalten des Maskenballs der Manga-Comunity nähren Illusionen, auch die im Inneren die Stände der New-Adult-Verlage umlagernden Scharen junger Erwachsener. Standen sie draußen an, um hereinzukommen, warten sie hier darauf, dem Alltag in die neuesten Romantasy-Storys zu entfliehen. Wie die junge Apothekerin, die sich für den ersten Messetag extra frei genommen hat: „Nach anstrengenden Kundengesprächen genieße ich es, mich in andere mögliche Welten träumen zu können.“ Währenddessen plaudern die Marketingstrategen des auf diesem Gebiet besonders erfolgreichen Lyx Verlags munter über so aufwendige Kampagnen, dass ihnen für das Lesen der von ihnen beworbenen Bücher eigentlich gar keine Zeit mehr bleibe. Verpackung ist alles.
„Menschen brauchen Märchen“, hatte Alhierd Bacharevic gesagt, „diejenigen, die heute versuchen anderen Menschen ihr Asylrecht zu entziehen, haben als Kinder gute Bücher schlecht gelesen.“ Vielleicht gilt das auch andersherum. Eskapismus ist das eine. Doch ein Gang über die Messe liefert die akustische Collage dessen, was einen zur Weltflucht bewegen könnte.
Alles auf eine Blick
Hier erzählt der ukrainische Menschrechtler Maksym Butkevych, der sich als überzeugter Pazifist nach dem Überfall auf sein Land freiwillig zum Militär gemeldet hat, von der Schule der Gewalt, die er in russischer Kriegsgefangenschaft erfahren hat. Dort hat sich spontan eine Solidaritätskundgebung für den gerade in Algerien zu fünf Jahren Haft verurteilten Friedenspreisträger Boualem Sansal gebildet. In vorderster Reihe die scheidende Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die noch einmal befeuert von den Brandherden der Welt in der ihr eigenen euphorischen Energetik das Motto der Messe, „Worte bewegen Welten“, in die Tat umsetzt.
Die Digitalpolitikerin Anke Domscheit-Berg warnt vor den Gefahren des Pakts mit der Künstlichen Intelligenz und die in diesen Zusammenhängen beliebte Beschwichtigung: „Das System hat noch Fehler, aber wir können es besser machen.“ Knausgard spricht über den Pakt mit dem Teufel. Und wenn man alles auf einen Blick haben will, ist man bei dem Katapult Verlag richtig. Alle Probleme, die uns drücken, werden hier in kleine Wunderwerke der Infografik umgesetzt: „100 Karten über Sex“, „100 Karten über Rechtsextremismus“ oder ganz neu: „65 Karten über Kacke – über unbekannte Unterwelten, große Geschäfte und unangenehme Wahrheiten“.
Man erfährt darin beispielsweise, dass Wildpinkeln in Deutschland eigentlich 5000 Euro kostet. Ein Delinquent, der sich in die Ostsee erleichtert hat, wurde allerdings vom Gericht mit folgender schöner Begründung freigesprochen: „Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.“
Wenn man will, kann man auch darin die uralte Sprache der Poesie heraushören. Res severa verum gaudium.