Mathias Gross, der auch den Stuttgarter Verlag Klett-Cotta vertritt, macht auf seiner Tour Station in der Sillenbucher Buchhandlung Papyrus. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Mathias Gross tingelt seit Jahrzehnten für den Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag durch die Buchhandlungen der Region. Ist dieses Mal ein Bestseller dabei?

Die erste Station zum möglichen Bestseller führt Mathias Gross durch den Bunten Bücherladen Filderstadt in ein winziges Büro. Bücher wachsen an den Wänden über den Schreibtisch zu Bergpanoramen, auf einem Stuhl im Tal öffnet Gross seinen Computer und macht sich arbeitsbereit. Seit 1997 tingelt der 62-jährige Mann mit der sanft brummenden Stimme für dtv und den Stuttgarter Verlag Klett-Cotta durch etwa 200 Buchhandlungen im Südwesten, der Börsenverein im Südwesten nennt ihn eine „Vertreterlegende“.

 

Dabei sind Verlagsvertreter ohnehin eine legendäre oder zumindest eigenwillige Spezies. Es sind keine Drücker oder Provisionen-Jäger wie in manchen anderen Branchen, sondern meist gelernte Buchhändler und zuvorkommende Menschen. „Ich bin für die meisten unabhängigen Buchhändler das Gesicht meines Verlages, denn sonst kennen sie niemanden“, erklärt Gross und schaut über die schmale Lesebrille zu Händler Ulrich Straub. Es sind zwei Männer, die sich schon lange kennen, duzen und respektieren. Und die jetzt Geschäfte machen müssen. Für Straub geht es darum, die passenden Bücher zu finden. Gross würde gerne viel verkaufen: Ist dieses Mal ein Verkaufshit dabei?

Click, click gehen Straub und Gross am Computer durch die Programme, doch schnell wird klar, dass Straub ein Profi ist und hart kalkuliert. Selbst bei jenen Büchern, die die Verlage als Spitzentitel bezeichnen, ordert er nur keins oder eins, wie bei einem binären Code. „Stefanie Babst, sitzt in Talkshows“, wirbt Gross für ein Buch, doch Straub erwidert: „Da ich keine Talkshows schaue, sind sie mir nicht bekannt.“ „Julia Schoch war im ,Spiegel‘ und ist bei Denis Scheck.“ Auch Literaturgroßmeister beeindrucken Straub nicht, zu ihm kommen Stammkunden, die ihre eigene Bestsellerliste schreiben. Ganz oben steht noch immer Susanne Abel, Autorin von „Stay away from Gretchen“. „Das neue Buch ist bereits fünfmal vorgemerkt“, sagt Straub, „da können wir auch auf zehn Exemplare erhöhen.“

Denis Scheck beeindruckt den Buchhändler nicht

Nach etwas Small Talk über explodierende Papierpreise und die Titelflut brummt Gross ein Stück über die B 312, sein Ziel ist der Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch. Gross könnte wohl jeden Stau auf den Fernstraßen im Südwesten vorhersagen, 40 000 Kilometer im Jahr ist er nach Corona wieder unterwegs. Er besucht vor allem die inhabergeführten Buchhandlungen in Kleinstädten oder in den Stadtteilen der Metropolen. Die großen Filialisten wie Osiander und Thalia bestellen zentral über ihre Einkaufszentralen, Gross informiert darüber hinaus aber viele Kollegen in den einzelnen Filialen über die aktuellen Verlagsprogramme.

Wegen der individuelleren Programme sind aber besonders den unabhängigen Buchhändlern Vertreterbesuche so wichtig. „Ich bin sehr offen, was meine Gegenüber betrifft“, sagt Gross. „Meine Kollegen im Buchhandel sind angenehme Menschen. Man hat gemeinsame Lieblingsdinge. Das ist wie in einer eigenen Welt, dennoch bekommt man von der reellen viel mit, weil sie sich in den Büchern findet.“

Gross ist für sie auch eine Art Meteorologe: In den ersten Winterwochen des Jahres vermittelt er für die Verlage das Frühjahrsprogramm. In den Sommermonaten preist er die Buchtitel für den Herbst. Wenn die Verlage sich auf den beiden großen Buchmessen präsentieren wie derzeit in Leipzig oder im Oktober in Frankfurt, haben Gross und seine Kollegen das Feld bereitet.

„Wie verloren“ habe Jussi Adler-Olsen gewirkt

Auf den Buchmessen hat Gross auch die Bestsellerautorinnen und -autoren kennengelernt, als sie in der Bücherflut noch untergingen. „Wie verloren“ habe etwa Jussi Adler-Olsen gewirkt – inzwischen sind die Auflagen des Krimiautoren auf mehr als 27 Millionen Bücher gewachsen. „Mir liegen auch Bücher am Herzen, die keine Bestseller werden“, betont Gross. „Wenn es in den Buchhandlungen nur Bestseller gäbe, dann kämen viele Leser kein zweites Mal vorbei. Die Breite ist genauso wichtig.“

Jener, der den Spagat zwischen Breite und Spitze für die Buchmesse mit vorbereitet hat, sitzt in der Zentrale von Klett-Cotta am Stuttgarter Feuersee. Es ist ein Zimmer mit Stuck und Ledersesseln, das noch den Geist ausstrahlt aus einer Zeit, als es weder Big Data noch Influencer gab. Marketing- und Vertriebschef Ralf Tornow hat selbst jahrelang als Vertreter gearbeitet, ein Vierteljahrhundert ist das jetzt her. Schon lange werde das Totenlied auf den Berufsstand des Vertreters gesungen, meint er – und doch seien sie noch immer die unerlässlichen Visitenkarten des Verlags, Vermittler und Kommunikatoren. Leute wie Gross. „Sehr humorvoll, sehr belesen, sehr erfahren. Er ist ein bisschen wie ein Bär, auch vom Äußeren.“

Klett-Cotta setzt auf „Die Inkommensurablen“ von Raphaela Edelbauer

Jedes Buch, das Gross in die Buchhandlungen bringt, hat schon seinen langen Weg durch die Verlagsabteilungen gemacht. Klett-Cotta hat es lektoriert und mit Presseabteilung, Marketing und Vertrieb auf das Verkaufspotenzial überprüft. Auf der Vertreterkonferenz im nahen Literaturhaus ging es um das Eingemachte: Titelbilder, Katalogtexte, Ladenpreis. Vor allem aber um die Spitzentitel, auf die sich fast alle Verlage konzentrieren. Im literarischen Programm von Klett-Cotta sind es zwei, die sich aus der Branchenflut von mehr als 60 000 Neuerscheinungen im Jahr hervorheben, nach oben spülen sollen. Die Buchkäufe konzentrieren sich seit Jahren wie noch nie auf die Toptitel der Bestsellerlisten – spiegelbildlich ist die Risikobereitschaft der Verlage bei neuen Titeln gesunken.

Klett-Cotta setzt vor allem auf Raphaela Edelbauers Wien-Roman „Die Inkommensurablen“, für den der Verlag viel Geld in Marketingkampagnen steckt. „Der spektakuläre neue Roman der preisgekrönten Wiener Autorin ist ein literarisches Ereignis“, verspricht der Vorschau-Text. Auf der Vertreterkonferenz wurde Gross von den Abteilungen umworben mit dem Kalkül: Begeistert er sich, begeistert er auch andere – oder wie Tornow es sagt: „So können Vertreter Glaubwürdigkeit kreieren und eine ganz andere Bindung zu den Händlern schaffen.“

Ob er sich selbst als Bär sehe, wisse er nicht, meint Gross und biegt auf die Sillenbucher Einkaufsstraße ab. „Aber ich hasse Hektik. Ich lasse mich selbst nicht gerne unter Druck setzen und setze auch andere nicht unter Druck.“ So gehe er auch bei den Verkaufsgesprächen ran.

Gross ist über die Jahre selbst zum Bestseller geworden

Über die Jahre ist Gross in der Branche selbst ein Bestseller geworden, so viel hat er verkauft. Als er 1990 nach einer Buchhandelslehre als freier Vertreter für kleinere Verlage einstieg, gab es noch keine Warenwirtschaftssysteme oder Datenanalysen, es wurde nach Gefühl bestellt. Gross kennt noch die Zeit, als Karstadt Deutschlands größter Buchhändler war. Er hat verfolgt, wie Buchhändler in den Citys über drei, vier Etagen wuchsen, während Amazon die Internetgeschäfte zu dominieren begann.

Den unabhängigen Buchhandlungen reichte schon immer ein Erdgeschoss, auch deshalb haben sie sich in den Coronajahren meist besser als die großen Filialisten geschlagen. Dennoch ist während Gross’ Berufslebens nicht nur die Vielfalt der Händler, sondern auch der Verlage stark geschrumpft. Auch bei den Verlagsvertretern machen immer weniger immer mehr. Noch rund 40 bereisen den Südwesten.

In der Buchhandlung Papyrus spürt man nichts von Sparmaßnahmen, hier ragen aus der Büchervielfalt beträchtliche Stapel heraus. „Man muss etwas hinlegen, das die Leute auch kaufen“, sagt Uwe Meinhardt, der wie der Rocker unter den Buchhändlern wirkt. Meinhardt hat Maler gelernt, die Ausbildung zum Erzieher abgebrochen, jene zum Buchhändler abgeschlossen. Fast 30 Jahre lang führt er sein Geschäft. In Sillenbuch ist die Einkaufsmeile noch belebt und die Kundschaft kaufkräftig. „Immer wenn ich über die Krise im Buchhandel lese, denke ich: Wo ist sie denn?“

Nach dem Jahreswechsel ist täglich ein Vertreter bei Meinhardt zu Besuch, mindestens sechs Wochen lang. Dann geht es im Sommer weiter, auf 100 Termine kommt er im Jahr. Als Normalbürger staunt man, dass er so oft bereitwillig die Tür öffnet, und sei es nur die seines Geschäfts. Die Besuche seien eine große Hilfestellung, betont Meinhardt – besonders jene von Herrn Gross. „Er weiß, dass man mit den Händlern kontinuierlich arbeiten muss und ihnen keinen Buchstapel aufquatschen darf. Machen das Vertreter, sind sie nach einem Jahr wieder weg.“

Wieder ist das Büro eher ein Kabuff, repräsentativ sind hier nur die Bücher. „Womit fangen wir an?“, fragt Meinhardt. Gross wirbt für den „Jahrhundertsommer“ von Alice Grünfelder: „Eine unbekannte Autorin, im Schwarzwald geboren, ein toller Roman, durchaus vergleichbar mit Susanne Abel. Er handelt von einer Frau, die in den 60er Jahren in Murrheim von ihrem Mann verlassen wird und eine Affäre mit einem amerikanischen Soldaten hat.“

„Und Ronja von Rönne?“ – „Gebunden so was gefloppt“

„Machen wir fünf“, sagt Meinhardt. Er blättert und schaut, was er angekreuzt hat, seine Mitarbeiterinnen helfen dabei. Man wirft die Vorlieben zusammen, schöpft auch aus den eigenen Leseerfahrungen. „Zwei, drei Titel brauchen wir“, setzt Gross an: „Julia Schoch. Sie wird Hauptgast bei Druckfrisch sein. Elke Heidenreich ist begeistert, sie wird im ,Spiegel‘ was machen.“ „Machen wir zehn.“ „Eugen Ruge: historischer Roman, super gemacht“, fährt Gross fort, doch Meinhardt erwidert: „Ich habe mir überlegt, ob er historisch kann.“ Gross gibt nicht auf: „Ich habe selten ein so spannendes Buch gelesen.“ „Machen wir zehn.“ „Und Ronja von Rönne?“ „Gebunden so was gefloppt.“

Jetzt kommt Klett-Cotta dran, den „Mord in Sussex“, bestellt Meinhardt prompt, aber was ist mit dem aktuellen Spitzentitel und der Bestsellerhoffnung, den „Inkommensurablen“? „Ich hätte den Mut zur Lücke“, sagt Meinhardt lapidar – „aber von der ,Unschärfe‘ von Iris Wolff brauche ich noch zehn.“

„Spitzentitel bedeuten mir gar nichts“, sagt Meinhardt im Gespräch danach. „Ich muss schauen, was meine Zielgruppe ist.“ Auch Meinhardt schreibt wie Buchhändler Straub seine eigene Bestsellerliste, unerreicht bleibt bisher „Der Drachenläufer“, ein Roman über eine Kindheit in Afghanistan. 3000 Stück gingen über den Ladentisch, das ist mehr, als sich etliche Bücher überhaupt verkaufen. „Drei unserer Leute haben es gelesen und empfohlen. Ich sage den Feuilletonisten und Marketingleuten dann: Hätten Sie mal mich gefragt.“

„Man muss sich an sein Gebrummel erst einmal gewöhnen“

Es ist Nachmittag geworden. Gross zieht den Schal über der Cordjacke zurecht und zieht sein Rollköfferchen zum Auto zurück. „Ruhig, seriös und konstant“ hat Meinhardt Gross beschrieben und ihn ebenfalls mit einem freundlichen Bären verglichen. Und zum Spaß: „Man muss sich an sein Gebrummel erst einmal gewöhnen.“

Für Gross war es kein schlechter Tag. Er hat die Tour ohne Hotelübernachtung geschafft, jetzt geht es nach Hause nach Kraichtal in der Nähe von Karlsruhe zurück, dort, wo sich an zwei Wänden die Schallplatten stapeln. In seiner Jugend hat Gross selbst als DJ aufgelegt und in Bands gespielt. Hätte es nicht mit der Buchhandelslehre geklappt, wäre er wohl Musikalienhändler geworden.