Die Leichtathletik und der Fußball gehören zu den populärsten Sportarten der Welt. Foto: red

Die Leichtathletik und der Fußball gehören zu den populärsten Sportarten der Welt. Auf der professionellen Ebene aber haben sie längst nichts mehr gemeinsam. Betrachtungen unseres Fußballreporters, der seine erste Leichtathletik-WM besucht.

London - Bei einer Weltmeisterschaft der Leichtathleten laufen einem sehr viele unterschiedliche Menschen über den Weg. Man begegnet chinesischen Hammerwerferinnen, deren Oberarme den Umfang von Elefantenbeinen haben; und afrikanischen Langstreckenläufern, die man auf der Stelle zu einer Schweinshaxe mit Knödeln einladen möchte. Man erlebt Stadionordner, die einen Arbeitsplatz im strömenden Regen besetzen müssen und einem trotzdem völlig ironiefrei einen schönen Tag wünschen, wenn man unters Tribünendach eilt; und Zuschauer, die die La-Ola-Welle machen, obwohl gerade die Qualifikation im Kugelstoßen läuft.

Wenn man viel Glück hat, macht man auch noch die Bekanntschaft eines freundlichen Mannes mit grauen Haaren. Er heißt Urbain Celis-Verhaegen. Es gibt viele verrückte Sportfans auf der Welt, doch dürfte es schwer sein, einen zu finden, der verrückter ist als der Belgier.

Urbain Celis-Verhaegen, 70 Jahre alt, pensionierter Notar aus der Nähe von Antwerpen, blaue Trainingsjacke, beige Trekkinghose, reist um die ganze Welt, um Athleten bei der Ausübung ihres Sports zuzuschauen. Er verpasst keine Kurzbahn-Weltmeisterschaft der Schwimmer. Er fährt zu jeder Europameisterschaft der Bahnradfahrer. Er hat sämtliche Olympische Sommerspiele seit Montreal 1976 besucht und für Tokio 2020 schon sein Quartier gebucht. Nur die Snooker-WM schaut er sich lieber im Fernsehen an. „Da sieht man einfach besser als in der Halle.“

Celis-Verhaegen ist ein Universalfan, doch am größten ist seine Leidenschaft für die Leichtathletik. Seit 1983 gibt es Weltmeisterschaften, seitdem ist keine Medaille ohne ihn vergeben worden. Helsinki, Rom, Tokio, Stuttgart, Athen, Sevilla, Edmonton, Paris, noch einmal Helsinki, Osaka, Berlin, Daegu, Moskau, Peking und jetzt London: Er ist immer dabei gewesen, vom ersten bis zum letzten Tag, bei den Entscheidungen am Abend ebenso wie bei den Vorkämpfen am Mittag. „Die Athleten, die Zeiten, die Atmosphäre – es gibt nichts Faszinierenderes.“

Früher hat Celis-Verhaegen auch dem Fußball seine Zeit und sein Geld geschenkt. Er reiste zu der WM 1978 in in Argentinien und nach Spanien vier Jahre später.

Danach hat er es aufgegeben. „Es geht schon lange nur noch darum“, sagt der Belgier und reibt Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammen: „Reiner Kommerz. Den wahren Sport finde ich bei der Leichtathletik.“ Man selbst hat viele Fußballturniere erlebt, man hört ihm zu und denkt: Recht hat er. Auch wenn man Novize ist und erstmals eine Leichtathletik-WM live erlebt.

Telefonat mit Hanna Klein um Mitternacht

Neben dem Fußball gehört auch die Leichtathletik zu den populärsten Sportarten der Welt. Doch sind es auf professioneller Ebene Lichtjahre, die sie trennen. Es sind zwei unterschiedliche Planeten, die sich immer weiter voneinander entfernen.Neymars 222-Millionen-Euro-Transfer wäre für diese Erkenntnis gar nicht nötig gewesen. Man muss nur die Weltmeisterschaften in beiden Sportarten vergleichen.

Eine Fußball-WM, das ist die Zeit, in der die Menschen in Deutschland Fähnchen an ihre Autos hängen und sich zum Public Viewing in überfüllten Kneipen oder auf Marktplätzen versammeln. Der Wahnsinn hat aber auch vor Ort Methode. Dort trifft sich nicht nur das Fach-, sondern auch das Eventpublikum, zu dem nicht selten Hooligantrupps aus ganz Europa gehören.

Im riesigen Pressetross der deutschen Fußball-Nationalelf vergeht wochenlang keine Minute, in der nicht auf sämtlichen Kanälen Neuigkeiten in die Heimat geschickt werden. Auch wenn sich gar nichts Neues ereignet hat. Turnhallen werden zu Medienzentren umgebaut, Zeltstädte für die Pressekonferenzen errichtet. Sie werden täglich live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen, egal ob der Bundestrainer auf dem Podium sitzt oder der Mannschaftskoch.

Dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) genügt in London ein größeres Hotelzimmer im zwölften Stock, um drei Pressekonferenzen auszurichten. Bei der ersten sitzt am Tag vor dem WM-Start Präsident Clemens Prokop vor einem Dutzend Journalisten und verspürt, noch ehe er über den Sport spricht, das Bedürfnis, sich „ganz herzlich zu bedanken“. Es sei in diesen Zeiten „nicht selbstverständlich“, dass so viele Reporter den Weg nach London gefunden hätten, um über die Leichtathletik zu berichten. „Das hilft unserer Sportart sehr. Daher noch einmal: vielen Dank.“

Mehr offizielle Medientermine sind nicht notwendig. Wer Fragen an die Beteiligten hat, geht auf den Trainingsplatz neben dem Stadion. Und wenn man sich verpasst, wählt man ihre Telefonnummer – notfalls auch um kurz vor Mitternacht. Dann erzählt einem die 1500-Meter-Läuferin Hanna Klein nach dem größten Rennen ihrer Karriere beglückt und ausführlich, wie unglaublich es sich angefühlt habe, vor 60 000 jubelnden Menschen im Londoner Olympiastadion zu laufen.

Es gibt bei einer Leichtathletik-WM lauter Teilnehmer wie Hanna Klein. Hochleistungsathleten, die seit Jahren viel härter trainieren als Fußballer und trotzdem kein Geld mit ihrem Sport verdienen. Normalerweise interessiert sich niemand für sie. Im Fernsehen sind sie nicht zu sehen, wenn nicht gerade zufällig eine Weltmeisterschaft oder Olympische Spiele stattfinden.

Die WM in London, live übertragen bei ARD und ZDF, ist ihre große Chance. Sie haben sich monatelang vorbereitet. Und wissen: So schnell bekommen sie keine neue Gelegenheit, einer breiten Öffentlichkeit ihr Können zu zeigen, so wie die Fußballer, auf die noch in der gleichen Woche das nächste Livespiel wartet, wenn sie mal einen schlechten Tag hatten. Man müsste daher ein besonders herzloser Geselle sein, um kein Mitgefühl zu empfinden mit Athleten wie Tatjana Pinto und Richard Ringer.

Gespräche sind im Fußball kaum noch möglich

Wegen eines Fehlstarts wird Pinto aus dem Stadion geleitet, noch ehe der erste Vorlauf über 100 Meter begonnen hat. Und Ringer läuft über 5000 Meter zur besten Sendezeit hoffnungslos hinterher und steht hinterher untröstlich vor der Fernsehkamera der ARD: „Ich muss mich entschuldigen. Es tut mir sehr leid.“

Matthias Bühler, Hürdensprinter aus dem Schwarzwald, nutzt den kurzen Moment im Rampenlicht immerhin dazu, einen Aufschrei auszustoßen: Die Zuschauer vor dem Fernseher müssten verstehen, dass viele Athleten „nicht einmal Miete zahlen können“. Am nächsten Morgen würde man gerne mit Bühler näher darüber reden und freut sich, dass ein Treffen im Teamhotel problemlos zu vereinbaren ist.

Wieder denkt man an eine Fußball-WM. Schwer bewachte Sperrzone ist dort das deutsche Mannschaftsquartier, neun von zehn Interviewanfragen werden negativ beschieden. Viel lieber beauftragen die Nationalspieler ihre Medienberater damit, Belanglosigkeiten bei Facebook oder Twitter zu platzieren, die von den Fans tausendfach gelikt werden. Wenn sich doch mal ein Nationalkicker zu einem Interview erbarmt, steht meist ein Presseoffizier mit der Uhr daneben und pfeift schon wieder ab, noch bevor sich so etwas wie ein Gespräch hätte entwickeln können.

Hürdenläufer Bühler nimmt sich viel Zeit und ist schonungslos offen. Dass er mit 30 noch bei seinen Eltern wohne, dass er ohne ihre Unterstützung schon längst hätte aufhören müssen, erzählt er – und fragt sich, was sein 18. Platz bei der WM wohl in der Welt des Fußballs bedeuten würde: „Wie viel verdient der 18. beste Fußballer im Jahr? 20 Millionen?“ Er selbst bekommt von der Deutschen Sporthilfe pro Monat 300 Euro.

Bessere Laune hat Urbain Celis-Verhaegen, der verrückte Sportfan aus Belgien. Eine „fantastische WM“ erlebt er und bedauert nur, dass es zwischendurch ein paar Mittage gab, an denen keine Vorläufe auf dem Programm standen. Im Londoner Zoo musste er sich die Zeit vertreiben. Mit Unbehagen blickt Celis-Verhaegen allerdings aufs nächste Jahr voraus, wenn bei den „European Championships 2018“ erstmals sechs Europameisterschaften in olympischen Sportarten gleichzeitig stattfinden.

Er wird sie diesmal verpassen, die geliebten Titelkämpfe der Schwimmer und der Radfahrer in Glasgow. „Ich musste mich entscheiden.“ Die Tickets für alle Tage der Leichtathletik-EM im Berliner Olympiastadion sind längst gekauft.

Der Autor: Marko Schumacher (45) ist Fußballreporter und Hobbykicker, aber auch Marathonläufer und Leichtathletik-Fan, seit er 1983 im Urlaub am Wörthersee im Fernsehen sah, wie Willi Wülbeck erster 800-Meter-Weltmeister wurde. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.leichtathlet-harald-schmid-ich-bin-traditionalist.8babb727-5ba2-4527-be71-0a29a64e722f.html?reduced=true http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.matthias-buehler-kritisiert-sportfoerderung-der-hilferuf-eines-huerdensprinters.95d87594-6681-47b5-81e2-545c42014a6c.html?reduced=true http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.leichtathletik-wm-die-suche-nach-dem-neuen-koenig-im-zehnkampf.5a3a156c-7751-4ae9-a3ca-b5209f6c6edc.html?reduced=true