Kniefällig zu künftigen Arbeitgebern rutschen? Diese Zeiten sind vorbei. Azubis sind gefragt. Sie können es sich leisten, anspruchsvoll zu sein. Es gibt mehr Stellen als Bewerber. Doch junge Leute haben im Kreis Esslingen überraschende Wünsche bei der Lehrstellensuche.
Post vom künftigen Arbeitgeber. Eine Postkarte mit einem Bild der neuen Kollegen flattert in den Briefkasten oder das Mail-Postfach: „Wir freuen uns auf dich“, steht drauf. Nach Beginn der Ausbildung kann ein „Buddy-System“ starten. Eine moderne Version des Mentorenprinzips: Azubis in höheren Lehrjahren kümmern sich um Neulinge. Es gibt viele Kniffe, um junge Menschen an ein Unternehmen zu binden, weiß Markus Knorpp von der Arbeitsagentur Esslingen. Und solche Tricks braucht es: Der „Herr Lehrling“ wird hofiert. Es gibt mehr Stellen als Bewerber.
Moderne Gesellschaften sind dynamisch. Die Welt dreht sich im Vuca-Modus – geprägt von schnellen Veränderungen (englisch Volatility), Ungewissheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und der Mehrdeutigkeit von Sachverhalten (Ambiguity). Dieses Lebensgefühl bestimmt auch junge Menschen bei der Berufswahl, so Knorpp. Sie wollen daher Kontinuität. Sichere Arbeitsplätze und ein gutes Betriebsklima stehen auf ihrem beruflichen Wunschzettel vor Karrierechancen und Verdienst. Sie können es sich erlauben, anspruchsvoll zu sein: „In den letzten 20 Jahren hat es keinen besseren Markt für Bewerber gegeben.“ Im letzten Ausbildungsjahr hatten 2373 Bewerber die komfortable Auswahl aus 3647 Stellen. Nur 50 Jugendliche hatten zum Stichtag 30. September 2024 keine Lehrstelle.
Virtuelles und menschliches Gehirnschmalz
Gefragt ist er zwar, bewerben muss er sich dennoch. Künstliche Intelligenz (KI) als Helfer bei Bewerbungsschreiben sei Standard, sagt Markus Knorpp. Der Trend sei nicht mehr umkehrbar. Doch clevere Bewerber ergänzten den virtuellen Intellekt durch menschliches Gehirnschmalz. KI dürfe Ideengeber, Impuls, Anreger sein. Aber: „Der Mensch muss die Maschine prüfen.“ Bewerbungsschreiben sollten mit präzisen Angaben zu Person, Lebens- und Berufsweg angereichert werden. Praktika mit Beschreibungen des Tätigkeitsfeldes, ehrenamtliches Engagement mit ergänzenden Ausführungen, Ferienjobs mit detaillierten Ausführungen zum Inhalt geben der Bewerbung Pfiff. Die Arbeit bei der Schülerzeitung wird etwa mit einem Link zu Inhalten oder einem Exemplar angereichert. Den Einsatz im Fußballverein belegt beispielsweise das Empfehlungsschreiben eines Sportfunktionärs. Genauer, persönlicher, personenbezogener – das seien auch gute Hilfsmittel für ein Vorstellungsgespräch.
Die Ausbildung kann so beginnen. Ein Ende mit Abschluss ist weniger sicher. 29,5 Prozent der Ausbildungsverträge werden in Deutschland vorzeitig aufgelöst, rechnet Markus Knorpp vor. Nicht immer wird die Lehre komplett geschmissen. Manche Azubis beenden die Ausbildung in einem anderen Betrieb, andere wechseln die Sparte. Hoch ist die Zahl vorzeitig beendeter Lehrverträge im Handwerk mit 36,7 Prozent, freien Berufen mit 34,7 Prozent, der Hauswirtschaft mit 32,6 Prozent. Festere Bindungen zwischen Azubi und Lehrbetrieb gibt es im öffentlichen Dienst mit einer Quote von neun Prozent. Doch sogar in Industrie und Handel liegt sie bei 26,2 Prozent.
Das Rezept gegen einen vorzeitigen Abbruch lautet Markus Knorpp zufolge „Praktika“ als Chance zum gegenseitigen Kennenlernen. Und bei Job und Bewerber sollte die Chemie stimmen: „Den richtigen Beruf gibt es nicht. Wohl aber den passenden.“ Als Gründe für einen Ausbildungsabbruch nennen Betriebe laut Markus Knorpp meist mangelhafte Berufsorientierung, fehlende Leistungsbereitschaft oder eine geringe Leistungsfähigkeit der Azubis.
Keine Generation „Null Bock“
Ein generelles Abwatschen des beruflichen Nachwuchses lässt Knorpp aber nicht gelten. „Jede Generation hat ihre Prägung“, sagt er. Jede Altersgruppe habe Stärken, die es von Ausbilderseite zu fördern und zu pflegen gelte. Auch ein einseitiger Fokus auf das „Life“ in der Work-Life-Balance durch die nachrückende Arbeitnehmergeneration mag er so nicht stehen lassen: „Junge Menschen trauen sich im Gegensatz zu früheren Generationen verstärkt, Dinge wie eine zu hohe Arbeitsbelastung anzusprechen.“
Ein funktionierendes Gleichgewicht von Arbeit und Leben könne auch Vorteile haben: einen geringen Krankenstand, eine höhere Motivation, eine enge Bindung an den Betrieb, höhere Verweildauer im Unternehmen. Denn Auszubildende seien eine Stärkung für jeden Betrieb – trotz schwächelnder Wirtschaft.
Traumberufe und Abbrecher
Favoriten
Beliebt in der Bewerbergunst sind im Kreis Esslingen Ausbildungen zu Kaufleuten im Büromanagement, zum Kfz-Mechatroniker, zu Industriekaufleuten oder zu medizinischen Fachangestellten. Laut Arbeitsagentur gibt es rund 350 Ausbildungsberufe in Deutschland.
Abbrecher
29,5 Prozent der Ausbildungsverträge werden in Deutschland vorzeitig beendet. Von Bewerberseite werden verschiedene Gründe dafür angegeben: Unvereinbarkeit von gewählter Ausbildung und Wunschberuf, Konflikte in der Ausbildung, unzureichende Vermittlung von Ausbildungsinhalten oder finanzielle Gründe. Schuld daran seien auch persönliche Anlässe, Überforderung oder ein anderer Ausbildungsplatz.
Zahlen Die Anzahl der Bewerber um eine Lehrstelle ist laut Agentur für Arbeit im Kreis Esslingen in den letzten Jahren angestiegen. 2139 bei 3540 Stellen waren es 2022, 2246 bei 3467 Stellen ein Jahr später. Im letzten Jahr wurden 2373 Bewerber auf 3647 Stellen gezählt.